Für die im Nationalsozialismus Verfolgten war der 8. Mai 45 ein Tag der Befreiung. Für die, die sich als Mitglieder der „Volksgemeinschaft“ verstanden, war es ein Tag der Kapitulation. An diesem Tag verloren alle mit dieser Gemeinschaft verbundenen rassistischen Insignien ihre Bedeutung. Auch das Mutterkreuz meiner Großmutter.
Der 8. Mai 45 war ein Sonntag. Es war „Muttertag“ und an diesem Tag wurden eigentlich „Mutterkreuze“ verliehen. Meine Großmutter war damit bereits ausgestattet worden. Das Mutterkreuz galt „als sichtbares Zeichen des Dankes des Deutschen Volkes an kinderreiche Mütter“, da die Familie als Keimzelle der „arischen Blutsgemeinschaft“ verstanden wurde und war Ausdruck eines reaktionären Frauenbildes. Nichts lag diesem Bild ferner als das eines freien Menschen, der sich Urteile bilden und selbstbestimmt handeln kann.
Im Oktober 1944 reiste meine Großmutter, ausgestattet mit dem silbernen Mutterkreuz, nach Berlin, um sich beim Chef der Sicherheitspolizei, Ernst Kaltenbrunner, für die Freilassung meines Großvaters aus dem KZ Dachau einzusetzen. Sie hatte vor, Kaltenbrunner mit ihrer blond-blauäugigen Erscheinung und dem Mutterkreuz zu beeindrucken. Damit hatte sie offenbar Erfolg und er versprach ihr, sich um eine „vorzeitige Entlassung“ meines Großvaters zu bemühen.
Am 23.10.44 erhielt sie dann aber einen Brief, in dem Kaltenbrunner schrieb: „Leider sehe ich mich nach sorgfältiger Abwägung des Für und Wider nicht in der Lage, Ihren Mann vorläufig zu entlassen, da dem sicherheitspolitische Belange entgegenstehen, die auch trotz persönlicher Härten in erster Linie ausschlaggebend sein müssen.“ Da half auch kein Mutterkreuz.
Die „sicherheitspolitischen Belange“ waren jene, die meinen Großvater in einen Zusammenhang mit den Attentätern des 20. Juli brachten, zu denen er über den Widerstandskämpfer Hermann Kaiser in einer Verbindung stand. Hermann Kaiser wurde am 21.7.44 festgenommen und am 23.1.45 durch den Strang hingerichtet. Mein Großvater kam nicht mehr frei und starb am 13.2.44 im KZ Dachau an Flecktyphus.
Für meinen Großvater und Hermann Kaiser kam der 8. Mai 45 zu spät. Für die Überlebenden der Konzentrationslager war es ein Tag der Befreiung. Für die mit der nationalsozialistischen Ideologie ausgestattete „Volksgemeinschaft“ war es eine Niederlage.
Als die Bundesregierung unter Willy Brandt am 8. Mai 1970 zum ersten mal mit einer offiziellen Regierungserklärung im Deutschen Bundestag an den Jahrestag der Befreiung erinnern wollte, versuchten das Vertreter der Union zu verhindern mit der Begründung: „Niederlagen feiert man nicht“ und „Schande und Schuld verdienen keine Würdigung“.
Heute gibt es immer noch Leute, die so sprechen.
Dabei ist doch die Frage, auf welcher Seite man steht: Eine Niederlage muss man feiern, wenn man sie als eine Befreiung begriffen hat.