„Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten…“

Geschichte wiederholt sich nicht, aber man kann aus ihr lernen. In dem berühmten Interview mit Günter Gaus erklärte Hannah Arendt 1964, wie es zur Machtergreifung 1933 kommen konnte.

Nicht die Machtergreifung der Nationalsozialisten war der entscheide Moment, so Hannah Arendt, sondern die politische Debatte, die dazu geführt hatte. Diese Debatte vollzog sich in den Jahren zuvor im öffentlichen Raum und war eine Art Inszenierung, in der die Jüdinnen und Juden als allgemeine Gefahr dargestellt wurden. Die Erzählung dieser Inszenierung begann den Hintergrund für die Lebensinteressen „der Deutschen“ zu bilden und den öffentliche Raum zu bestimmen. Mit der politischen Gleichschaltung verloren die Jüdinnen und Juden darin schließlich mehr und mehr ihren Platz. „Es war“, so Hannah Arendt, „als ob sich ein leerer Raum um einen bildete…“

Heute wird der öffentliche Raum zunehmend wieder als Projektionsfläche für Diskriminierung und soziale Ausgrenzung genutzt. Flüchtlinge werden für Probleme in einem „Stadtbild“ gemacht, das in erster Linie eines ist: eine politische Konstruktion. Es geht nicht um den tatsächlichen Müll auf den Straßen oder um tatsächliche oder herbeigeredete Probleme mit Kriminellen. Es geht um ein politisches Programm, das eine Grenze zieht, zwischen „uns“ und den „Anderen“. Eine Grenze, hinter der der einzelne Mensch unsichtbar wird.

In ihrer Dankesrede anlässlich der Verleihung des Lessingpreises, die überschrieben war mit dem Titel „Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten“, sagte Hannah Arendt: „In der Geschichte sind die Zeiten, in denen sich der Raum des Öffentlichen verdunkelt und der Bestand der Welt so fragwürdig wird, daß die Menschen von der Politik nicht mehr verlangen, als daß sie auf ihre Lebensinteressen und Privatfreiheit die gehörige Rücksicht nehme, nicht selten. Man kann sie mit einigem Recht ›finstere Zeiten‹ nennen.“

Der Titel der Dankesrede war von Berthold Brecht geborgt, der zwischen 1934 und 1938 das Gedicht „An die Nachgeborenen“ geschrieben hatte:

„Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind? […]“

Videoquelle: Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus

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