Die Hauptfigur in Ferdinand von Schirachs Buch „Regen“, ein Schriftsteller, sagt über Demokratie:
„Eine Demokratie ist zwangsläufig das Gegenteil von Mystik und Geheimnis. Sie muss es sein. Je besser sie für uns wird, desto mehr besteht sie aus Fragen, aus immer engeren, immer kleinteiligeren Fragen, aus hunderten und tausenden Kompromissen. Und vor allem aus einem: aus Ambivalenz. Das ist das Schlüsselwort unserer Zeit: Ambivalenz. Es ist heute nicht mehr möglich etwas zu sagen, ohne sofort das Gesagte wieder in Frage zu stellen.
[…]
Manche Leute halten das nicht mehr aus. Sie wollen keine Ambivalenz mehr. Sie wollen Eindeutigkeit, Klarheit, einen Halt. Und dann machen sie Dummheiten und wählen einen, der Schluss mit den Diskussionen machen soll. Einen, der durchregiert, der endlich mal durchgreift. So einen wollen die.
[…]
Stellen Sie sich vor, die Menschen wären wirklich frei und gleich geboren. Plötzlich gebe es keine Unterschiede mehr nach Hautfarbe, Geschlecht, Religion und Weltanschauung. Keine Unterschiede nach Nation, Herkunft, Geburt, Vermögen und Stand. Und das stünde nicht nur in Erklärungen, Verfassungen und Gesetzen — das wäre Wirklichkeit.
Stellen Sie sich das doch bloß einen Moment lang vor: Jeder Mensch wäre dann nur noch ein Mensch.
Weitaus größer als das Pantheon wäre das.
Vielleicht gelingt es. Vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht. Aber wenn es gelingt, dann sicher nur wegen der Ambivalenz unserer Zeit.“
aus: Ferdinand von Schirach: Regen. Eine Liebeserklärung. Luchterhand, München 2023. S. 30-34