„Wir werden die Zukunft nicht im Rückwärtsgang erreichen…“, hat Robert Harbeck in seiner Rede zur Vertrauensfrage mit Blick auf das Wahlprogramm der CDU gesagt. Das ist nicht nur Wahlkampfrhetorik.
Welche Richtung schlägt die CDU ein? „Wieder nach vorne“ ist ihr Wahlkampfslogan. Wo aber ist Vorne? Wenn ich mich umdrehe ist Vorne da, wo gerade noch Hinten war.
Warum das wichtig ist? Weil „Vorne“ eine Frage der Perspektive ist. In ihrem Werbevideo nennt die CDU drei zentrale „Tugenden, die uns stark gemacht haben: Anstand, Fleiß und Gemeinwohlorientierung“. An denen orientiert sie sich.
Gegen diese Tugenden ist auf den ersten Blick nichts zu sagen. Dann denke ich mir aber: Stop! Warum eigentlich nicht solche Tugenden wie Respekt, Toleranz oder Nächstenliebe? Stattdessen Anstand, Fleiß und Gemeinwohlorientierung?
Der Begriff „Gemeinwohl” ist zunächst eine beliebig auffüllbare Worhülse: Er wirbt um Loyalität und verschafft Legitimität, er hat Integrationswirkung, er vereinfacht und entlastet, er verhüllt eigene Interessen und verleiht moralische Autorität (APuZ 3/1978). Mit den Begriffen „Anstand“ und „Fleiß“ verhält es sich nicht anders.
Ist es aber nicht geschichtsvergessen, mit diesen Begriffen zu operieren? Wo haben „uns“ diese Tugenden denn eigentlich „stark gemacht“?
Haben nicht die N*zis mit diesen Begriffen operiert, um eine Volksgemeinschaft zu suggerieren, die damit ihre Überlegenheit unter Beweis stellen sollte? Sind diese Begriffe nicht längst kontaminiert?
Die Nationalsozialisten schrieben vor 100 Jahren als zentralen Grundsatz „Gemeinnutz vor Eigennutz“ in ihr Programm, um mit dieser Formel die sog. „Volksgemeinschaft“ auszustatten, hinter der das Individuum mit seinen positiven Rechten verschwand.
Der Begriff „Anstand“ hat in Verbindung mit dem Begriff „Ehre“ eine ähnliche Karriere. Er war unter den N*zis rassistisch konnotiert. So nannte Heinrich Himmler in einer Rede vor SS-Offizieren am 4. Oktober 1943 diejenigen „anständig“, die den Anblick der von ihnen produzierten Leichenberge aushalten konnten.
Von ihm stammt auch die Losung, unter der das Konzentrationslager Dachau betrieben wurde: „Es gibt einen Weg zur Freiheit. Seine Meilensteine heißen: Gehorsam, Fleiß, Ehrlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Nüchternheit, Wahrhaftigkeit, Opfersinn und Liebe zum Vaterland“. Diese Losung befand sich aus riesigen Dachziegeln zusammengesetzt auf der zum Appellplatz und zu den Baracken ausgerichteten Dachseite des Wirtschaftsgebäudes.
Die Häftlinge hatten ihn dreimal täglich vor Augen, wenn sie zum Appell antreten mussten.