Warum wählen die Leute eigentlich die Rechtsextremisten? Sie sehen doch, wohin der Faschismus geführt hat!
Sie sehen es aber nicht.
Nicht hinsehen oder die Augen vor einer menschlichen Tragödie verschließen, weil ich es nicht ertrage, ist eine menschliche Praxis. Hinsehen und es nicht sehen, ist eine Praxis, die das Sichtbare zum Verschwinden bringt.
Wie geht das?
Der Unteroffizier Fritz Lawen hat im 2. Weltkrieg Fotografien gemacht, die zeigen, was er gesehen hat. Als er 1944 in sowjetische Gefangenschaft geriet, wurden in seinem Marschgepäck Fotos gefunden, die er aufgenommen hatte um sich an militärische Operationen im Rahmen der sog. „Bandenbekämpfung“ zu erinnern.
Der Begriff „Bandenbekämpfung“ war ein Synonym für den Kampf gegen Partisan*innen und Teil einer diskriminierenden Terminologie, die die blutigen Feldzüge der Wehrmacht gegen sie rechtfertigen sollte: Aus Partisan*innen wurden „Banditen“ gemacht.
Die Fotos sind so grauenvoll, dass ich sie nicht aus einer wissenschaftlich interessierten Distanz ansehen kann. Auf einem Foto sehe ich einen Menschen, der am Galgen hängt. Davor ist ein entspannt blickender Soldat, der die Hände in den Hosentaschen vergraben hat. Auf anderen Fotos sind hungernde Menschen zu sehen und es gibt Fotos von russischen Frauen, unter denen handgeschrieben „Banditenweiber“ notiert ist.
Was ich in den Fotos sehe, hat Fritz Lawen allerdings nicht darin gesehen. Er hatte nicht vor, Verbrechen der Wehrmacht zu dokumentieren.
Der Kulturhistoriker Bernd Hüppauf hat sich die Frage gestellt, was Soldaten dazu gebracht hat, beim Anblick solcher Situationen „die Kamera vors Auge zu heben, den Ausschnitt zu bestimmen und den Auslöser zu betätigen“. Er kam zu dem Schluss, dass es der Blick hinter der Kamera war: der „entleerte Blick“. Dieser Blick stattete das Sichtbare mit den Bedeutungen aus, die das nationalsozialistische Weltbild zur Verfügung stellte, ohne dem Sichtbaren selbst eine ihm eigene Bedeutung zuzubilligen.
Die nationalsozialistische Kultur, so schreibt Jean-Luc Nancy, ist „nichts anderes als die Angleichung der Welt an eine Anschauung“. Diejenigen, die diese Kultur verkörperten, waren, so sagt er, die absoluten Repräsentanten der Repräsentation, die sich das Leid der Anderen aneigneten, indem sie ihnen ihre soziale Identität absprachen und ihren „Darstellungsraum“ vernichteten.
Offenbar ist es möglich etwas zu sehen und es gleichzeitig durch seinen Blick zum Verschwinden zu bringen. Wer aus allen Flüchtlingen potentielle Gewalttäter macht, weil in Solingen ein Flüchtling und Terrorist Menschen ermordet hat, sieht nicht mehr den individuellen Menschen aus Fleisch und Blut, sondern stattet ihn mit kollektiven Eigenschaften aus.
Wer dagegen andere Menschen sieht und ihren Blick erwidert, kann sie nicht übersehen.