Ich habe mich gestern zum Wahlausgang geäußert und mich dabei der Strommetapher bedient. Ich habe mich gefragt, was es heißt mit oder gegen den Strom zu schwimmen.
Darauf ist mir vorgehalten worden, man könne zwar gegen den Strom schwimmen, wäre dann – im Falle der Grünen – bei der kommenden Bundestagswahl von der Bildfläche verschwunden. Immerhin verlasse man dann die politische Bühne in dem Gefühl moralischer Überlegenheit, aber man habe nichts erreicht.
Ich habe darauf mit einem Beispiel aus meiner eigenen Familiengeschichte geantwortet, weil es nichts mit moralischer Überlegenheit oder gar Überheblichkeit zu tun haben muss, einen Standpunkt in einer scheinbar oder tatsächlich aussichtslosen Situation zu vertreten.
1938 ist mein Großvater ins Theater gegangen. Don Carlos von Schiller stand auf dem Programm. Als der Marquis von Posa dem König sagte: „Geben Sie Gedankenfreiheit!“ stand mein Großvater als Einziger im Theater auf und applaudierte.
Dafür und weil er öffentlich Jüdinnen und Juden verteidigt hat, ist er ins Gefängnis und dann ins KZ gekommen. Eine Mehrheit für ihn gab es nicht. Das hat er nicht überlebt.
Ich bewundere ihn dafür sehr. Und ich versuche ihn zu verstehen.
Wer sich die Frage stellt „Was will ich tun?“ oder „Wer will ich sein?“, der kann diese Fragen nicht beantworten, wenn er sich im Strom der Geschichte treiben lässt. Er kann diese Fragen nicht beantworten, ohne sich gleichzeitig zu fragen, welche ethischen Überzeugungen er vertritt und auf welchen Überzeugungen sein Selbstverständnis beruht. Er kann sich über seine ethischen Überzeugungen nur klar werden, wenn er sich nach dem Sinn seiner Handlungen fragt.
Viktor Frankl soll folgende Parabel erzählt haben, wenn er nach dem Sinn unseres Handelns gefragt wurde:
„Es war zu einer Zeit, da in Chartres die Kathedrale gebaut wurde. Ein Wanderer kam des Weges und sah einen Mann, am Straßenrand sitzend, einen Stein behauen. Verwundert fragte er ihn, was er da mache? – ,Siehst Du es denn nicht, ich behaue Steine’.
Verständnislos ging der Mann weiter. Da stieß er nach der nächsten Wegbiegung auf einen anderen Mann, der dasselbe tat. Wieder hielt er inne und fragte ihn, was er da mache? – ‚Ich mache Ecksteine.‘
Kopfschüttelnd ging er weiter. Als er nach einigen Schritten erneut auf einen Mann traf, der auch im Staube saß und so wie die anderen schwitzend Steine behaute, trat er entschlossen auf ihn zu und sagte: ‚Machst du vielleicht Ecksteine?‘
Da blickte der Mann auf, wischte sich den Schweiß von der Stirne und sagte: ‚Ich baue eine Kathedrale.‘“