Meine Nichte hat einen Beitrag von mir gelesen und dabei einen Fehler entdeckt: „Nicht hinsehen und die Augen nicht verschließen, macht den anderen als soziales Subjekt unsichtbar.“ Sie meinte, darin wäre ein „nicht“ zu viel.
Ist es nicht!
Es ging um Diskriminierung. So funktioniert nämlich Diskriminierung: Wir sehen jemanden nicht, obwohl wir ihn anblicken. Wir statten ihn mit bestimmten Eigenschaften aus, die ihn zu dem machen, was wir in ihm sehen. Man kann das auch Zuschreibung nennen.
Ich habe meiner Nichte umständlich geantwortet und dabei festgestellt, dass ich nicht nur über gesellschaftlichen Rassismus und Diskriminierung spreche, sondern über Kommunikation im Allgemeinen.
Dafür war mein letzter Beitrag ein Lehrstück. Über das Interview des Tagesthemen-Moderators mit Robert Habeck gab es sage und schreibe 620 Kommentare. Die allermeisten waren unterstützend. Es gab aber auch welche, die einfach nur ihren Müll über dem Beitrag auskippten: Kinderbuchautor, Clown, Ideologe, Linker, Heuchler, Doppelmoralist…
Immer wenn ich so einen Kommentar las, hatte ich den Impuls den Autor (tatsächlich meistens Männer) in den Hintern zu treten. Habe ich dann nicht gemacht. Ich habe aber gemerkt, wie eine Debatte ins Leere geht, die nicht daran interessiert ist, unterschiedliche Standpunkte in Beziehung zueinander zu bringen.
Meiner Nichte habe ich dieses Phänomen umständlich so beschrieben:
Unsere Wahrnehmung ist so organisiert, dass wir selektiv wahrnehmen, also etwas angucken, ohne hinzusehen. Sonst würden wir in der Fülle unserer Eindrücke untergehen. Wir reduzieren das, was wir sehen, auf einen Begriff. Wenn ich sage: „Ich sehe eine Wiese“, spreche ich nicht von dieser konkreten Wiese und Tausenden von Grashalmen, die darauf versammelt sind. Ich verallgemeinere sie. Bei einer Wiese ist das vielleicht kein Problem. Wenn ich aber sage: Ich sehe einen Asylanten, geht hinter diesem Begriff der einzelne Mensch unter.
Und dieses Phänomen haben die Nazis genutzt. Sie haben die Juden mit bestimmten Eigenschaften ausgestattet und wenn die Leute dann Juden gesehen haben, haben sie nicht mehr den individuellen Menschen gesehen, mit dem sie es zu tun hatten, sondern sie haben haben gesagt: Das ist einer von den Juden!
Was so kompliziert klingt, ist eigentlich ganz einfach. Irgendjemand hat einmal gesagt, Wahrnehmung sei geteilte Wirklichkeit. Wenn ich vor einer Litfaßsäule stehe, sehe ich etwas anderes als der, der auf der anderen Seite steht. Was ich sehe, ist also meiner Perspektive geschuldet.
Das Gute daran ist: Ich kann meine Wirklichkeit mit dem, der auf der anderen Seite steht, teilen. Ich sag ihm, was ich sehe.
Oder auch nicht! Wenn ich jemanden in die Augen blicke, sehe ich etwas Anderes als er. Das kann eine Beziehung stiften. Es kann aber auch lediglich Klischees mobilisieren: „Ich schau dir in die Augen, Kleines!“