Muss man sich denn über alles, was passiert, verständigen? Machen wir doch einfach einen Faktencheck!
Ich habe letzte Woche eine interessante Erfahrung gemacht über das, was wir „Wirklichkeit“ nennen und gewöhnlich für gegeben halten. Ich war in einer Ballettaufführung. Ich habe erstmal nichts mit dem anfangen können, was ich gesehen habe.
Dann habe ich meine Augen unscharf gestellt. Oder genauer: Ich habe meinen Fokus verschoben. Ich habe plötzlich gesehen, was ich vorher nicht gesehen hatte: Sozusagen das Große und Ganze. Ich habe nicht die Summe von einzelnen Dingen gesehen, sondern ihren Zusammenhang. Das, was sich zwischen ihnen ereignete! Das war unglaublich!
Warum ich das erzähle? Mein Blick hat das Stück verändert! Sobald ich meine Augen wieder scharf stellte, war es vorbei. Dann habe ich nicht mehr gesehen, was eigentlich nur unscharf zu sehen war. Ich habe nur noch einzelne Leute gesehen, die sich berührt haben oder nicht berührt haben, die auf den Zehenspitzen gehen konnten, sich um die eigene Achse drehten oder einfach durch die Gegend liefen. Das machte aber gar keinen Sinn.
Zu Hause habe ich dann eine Geschichte von Ferdinand von Schierach gelesen und begriffen, was das „Unschärfeprinzip“ ist. In dieser Geschichte müssen sich ein Friseur und seine Frau wegen Mordes vor Gericht verantworten. Ihr Anwalt besucht sie im Gefängnis und erklärt ihnen seine Verteidigungsstrategie, die auf dem Unschärfeprinzip beruht:
„Wenn man etwas untersuchen will, ich meine wissenschaftlich, wie sich die Planeten um die Sonne drehen, aus was für einer Materie Sonnenflecken sind, wieso das Wasser aus der Dusche kommt, na ja, man muss es sich ansehen. Aber manchmal verändert die Betrachtung den Gegenstand. Man kann nie objektiv wissen, was passiert ist oder was passiert wäre, wenn man nicht mit seiner verdammten Nase drin rumgeschnüffelt hätte. Deshalb kann es nie Gewissheit geben. Indem man etwas betrachtet, verändert man es. Die nennen das das Unschärfeprinzip.“
Auf diesem Unschärfeprinzip beruhen nicht nur wissenschaftliche Untersuchungen, sondern alles, was wir wahrnehmen und dann darüber denken. Wenn ich mit Paul Watzlawick frage: „Wie wirklich ist die Wirklichkeit“, dann könnte ich mit Thomas Nagel antworten: „Wenn man recht darüber nachdenkt, so kann man sich nur über das Innere seines eigenen Bewusstseins ganz sicher sein.“
Natürlich gibt es Fakten, die unabhängig von meiner subjektiven Wahrnehmung existieren. Das betrifft alles, für das es einen objektiven Maßstab gibt. Kurz: Das, was ich messen, wiegen oder zählen kann.
Was ich aber wahrnehme und zu meiner Wirklichkeit mache, verdankt sich meinem Blick. Wer das begriffen hat, der begreift auch, was Demokratie ist. Die rechte Propaganda kennt den Unterschied zwischen Faktum und Wahrnehmung nicht. Wirklichkeit ist aber nichts, das man verordnen kann.
Man muss sich darüber verständigen.