Heute ist vom Bundesgerichtshof ein Urteil über eine 99-jährige Frau bestätigt worden, die vor 80 Jahren im Alter von 18 Jahren als Sekretärin im Konzentrationslager Stutthof gearbeitet und die Todeslisten derjenigen abgetippt hatte, die dort ermordet wurden. Sie wurde wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen und wegen Beihilfe zum versuchten Mord in fünf weiteren Fällen nach dem Jugendstrafrecht zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt.
Das Urteil gilt als Präzedenzfall für die Verfolgung von Verbrechen im Nationalsozialismus, weil erstmals eine Täterin auf einer der unteren Hierarchieebenen staatlicher Gewalt abgeurteilt worden ist. Es steht allerdings in einem eklatanten Widerspruch zu der weitgehend nicht erfolgten Ahndung von Verbrechen im „Dritten Reich“, die von Organen der staatlichen Bürokratie oder von Organen der Justiz selbst verübt wurden.
Dazu zählt z.B. ein Verfahren vor dem Landgericht Wiesbaden im Jahr 1952, bei dem die Beamt*innen des Reichsjustizministeriums, die Deportationen ins Konzentrationslager veranlasst hatten, freigesprochen wurden, weil sie – so absurd das klingt – laut Gerichtsurteil nicht gewusst haben konnten, was das Wort „Vernichtung“ bedeutete, sodass „das ›Wahrnehmen des Wortes Vernichtung allein‹ […] keine ausreichende Grundlage für eine Feststellung des Wissens oder Ahnens der Angeklagten um die Tötungen“ in den Konzentrationslagern darstellte.
Diese juristische Praxis des Verleugnens findet sich auch bestätigt in der Geschichte der Verfolgung von Verbrechen der Justiz selbst. Am 29.9.2004 fasste der seinerzeitige Präsident des Bundesgerichtshofes Günter Hirsch diese Geschichte so zusammen:
„Richter und Staatsanwälte, die an den tausendfachen Justizverbrechen im Dritten Reich beteiligt waren, blieben fast völlig von Strafverfolgung verschont – Richterprivileg, Beratungsgeheimnis, formaler Rechtsgehorsam waren die rechtlichen Instrumente, auf die sich die Justiz stützte. Nachdem 1968 schließlich auch die Verurteilung des Richters Rehse, der zusammen mit Roland Freisler im Volksgerichtshof an Dutzenden von Todesurteilen gegen Widerstandskämpfer mitgewirkt hatte, aufgehoben wurde, stellten die Staatsanwaltschaften alle Ermittlungen gegen ehemalige Richter ein“.
Nicht nur das: Auch die Rechtswissenschaftler, wie die Professoren der „Kieler Schule“, die sich als Vordenker der nationalsozialistischen Rechtserneuerung verstanden und die juristischen Grundlagen für die Urteile der Naz.richter entworfen hatten, konnten ihre akademischen Karrieren nach dem Krieg fast ungetrübt an bundesdeutschen Hochschulen fortsetzen.
Auch sie wurden nicht zur Verantwortung gezogen.