Geschichte, so könnte man annehmen, ist Vergangenheit. Und Vergangenheit war gestern. Sie ist vorbei, wenn sie nicht mehr in mein frisiertes Fotoalbum passt. Und wenn ein Foto von mir, das ich schon aussortiert hatte, in einem anderen auftaucht: Mein Gott, was habe ich noch damit zu tun. Das ist 30 Jahre her!
Ich erinnere mich an meine Jugendsünden: Ich habe Bacardi gesoffen, bis ich nicht mehr stehen konnte, ich habe angefangen zu rauchen, weil es cool war, ich habe Flugblätter gegen Nazi-Lehrer verfasst und verteilt und sie damit bloßgestellt, ich bin ab der 12. Klasse nicht mehr zur Schule gegangen, weil sie mich angekotzt hat. Dann bin ich von der Schule geflogen. Das ist jetzt mindestens 50 Jahre her.
Wahrscheinlich habe ich noch viel Schlimmeres gemacht, an das ich mich jetzt nicht erinnere oder nicht erinnern will. Vielleicht habe ich Frösche gesammelt und ihnen die Augen ausgerissen, vielleicht habe ich den Rauhaardackel unseres Nachbarn vergiftet und ihn vor seine Tür geworfen. Daran erinnere ich mich nicht. Ich kann mich aber erst recht nicht erinnern, den Hitlergruß nachgeahmt, Hitlers Reden vor meinen Mitschülern rezitiert zu haben oder einen Wettbewerb über vergaste Juden ausgelobt zu haben. Mein Bruder kann sich auch nicht daran erinnern.
Wer bis hierhin meinen „Jugendsünden“ gefolgt ist, wird vielleicht bemerken, dass umstandslos völlig unterschiedliche Handlungen auf die gleiche Stufe gehoben werden: es macht scheinbar keinen Unterschied, ob ich Bacardi saufe, Tiere quäle oder den Holocaust verherrliche. Weil doch jeder in seiner Jugend so etwas gemacht hat, wie Bacardi saufen, Frösche sammeln oder Dackel vergiften.
Wer am Holocaust teilgenommen, ihn hingenommen oder ihm nicht widersprochen hat, hat ein Problem. Viele Zeitzeugen haben gesagt, sie hätten von den Nazi-Verbrechen nichts gewußt. Auch wenn ich ihnen das nicht glaube: Wer nach dem Ende des Krieges den Holocaust noch weiter verherrlicht hat, hat das wissentlich getan.
Wer heute seine Jugendsünden nicht los wird, weil er weiter Bacardi säuft oder Kettenraucher geworden ist, hat ein Problem. Vielleicht braucht er Hilfe. Wer den Holocaust verherrlicht, hat aus der Geschichte nichts gelernt. Wer 30 Jahre, nach dem er daraus nichts gelernt hat, sagt, er könne sich nicht erinnern, der ist nicht in der Lage, sich selber in Frage zu stellen. Das aber ist nicht sein persönliches Problem, weil es diejenigen angeht, die umgebracht oder vergast worden sind.
Aiwanger ist kein Menschenfreund. Er ist lediglich mit sich selbst befreundet.
Geschichte ist nicht von gestern. Sie ist das Holz, aus dem wir geschnitzt sind.