Gestern bin ich durch einem erschütternden Artikel an die Geschichte von Ramazan Avcı erinnert worden, der am 21. Dezember 1985 von Neonazis zu Tode geprügelt wurde.
Rassistische Gewalt hat eine politische, eine juristische und eine psychologische Dimension. Meistens hören wir nach den ersten beiden Dimensionen auf. Wie rassistische Gewalt entsteht, haben wir dann noch nicht verstanden.
Tatsächlich war mein erster Reflex: Die gehören eingesperrt! Was aber hat die Justiz gemacht? Die fünf jungen Männer, die Ramazan Avcı getötet haben, wurden angeklagt – allerdings nur wegen Totschlags. Der Mordvorwurf wurde von der Staatsanwaltschaft fallen gelassen, weil — man fasst es nicht — „keine niederen Beweggründe“ vorgelegen hätten. Die Urteile: Zwischen einem und zehn Jahren Haft.
Mein zweiter Reflex: Politisch dagegenhalten! Immerhin nahmen am 11. Januar 1986 15.000 Menschen an einem Trauerzug zu Ehren Ramazan Avcıs teil. Und was hat die Politik gemacht? Die hat verharmlost und die Sache herunter gespielt.
Mein dritter Reflex: Der Verrohung in der Gesellschaft entgegenwirken! Ich lese bei Arno Gruen nach und finde eine Erklärung, die die psychologischen Ursachen für Gewalt in den gesellschaftlichen Bedingungen findet, unter denen wir leben. Die ursprünglich emphatische Wahrnehmung des Menschen werde nach und nach von einer Wahrnehmung verdrängt, die von Konkurrenz und dem Streben nach Macht bestimmt ist:
„Wir glauben, unser Denken sei realistisch, wenn es von Mitgefühl befreit ist, von der Fähigkeit, Schmerz zu teilen, Leid zu verstehen, und vom Gefühl der Verbundenheit mit allen Lebewesen.
Denken wir aber ohne Mitgefühl, dann leben wir in einer Scheinwelt aus Abstraktionen, die Kampf und Konkurrenz zu den Triebkräften unserer Existenz machen. In dieser Welt der Abstraktionen dominiert die Gewalt. In ihr kann nur überleben, wer andere unterwirft oder vernichtet.
Diese Vorstellung eines Lebens ohne Mitgefühl ist auf Feinde angewiesen. Ja, wir beginnen uns selbst durch das Feindbild, das wir heraufbeschwören, zu definieren. Indem das abstrakte Denken – also das Kognitive – das Empathische in uns ersetzt, entfernen wir uns immer mehr von jeder unmittelbar gefühlten Wirklichkeit. Wir wenden uns dem Untergang zu.“ (aus: Arno Gruen: „Dem Leben entfremdet“)
Wir können uns allerdings auch der Kunst zuwenden: Wer schon einmal ein Shakespeare-Drama gesehen hat, wird mit einer Welt konfrontiert, die ohne Empathie nicht auskommt. Der englische Psychiater Murray Cox, mit dem Arno Gruen zusammengearbeitet hat, wusste das und liess die in einem psychiatrischen Gefängnis inhaftierten Gewalttäter als Schauspieler in Shakespeare-Dramen mitspielen.
Sie begannen Schmerz und Trauer für das zu empfinden, was sie getan hatten.