Blog

Peter Sinapius

Wie Weltanschauungen entstehen

Der Begriff „Weltanschauung“ taucht das erste Mal 1790 bei Immanuel Kant auf und bezeichnet das Vermögen, die Welt in ihrer Gesamtheit wahrzunehmen und in sprachliche Begriffe zu fassen. Eine Weltanschauung ist folglich sowohl das Ergebnis sinnlicher Wahrnehmung, als auch sprachlicher Reflexion. Je nachdem, wie sie sprachlich verfasst ist, verändert sich auch das, was sich der Wahrnehmung verdankt.

In dem als Höhlengleichnis bekannten Gedankenexperiment von Platon befinden sich Menschen in einer Höhle, in der sie aus irgendeinem Grund ihr ganzes Leben als Gefangene verbringen müssen. Wie die Welt außerhalb der Höhle aussieht, wissen sie nicht. Sie sind gefesselt und mit dem Rücken dem Höhlenausgang zugewandt. Sie sind nicht in der Lage, ihren Kopf zu wenden, sondern blicken auf die Höhlenwand.

Auf der Höhlenwand sehen sie die Schatten unterschiedlicher Gegenstände, die die Menschen vor der Höhle hin- und hertragen. Was sie über die Welt wahrnehmen, ist den Schatten der Gegenstände geschuldet, die auf der Höhlenwand zu sehen sind, über die sich die Gefangenen verständigen, denen sie Bedeutungen zuschreiben und über die sie Theorien entwickeln können. Das, was sie sehen, halten sie für die reale Welt.

Das Höhlengleichnis führt den Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung und dem, was wir über die Welt wissen, vor Augen: Die Gefangenen sehen die Welt nicht einfach so, wie sie ist, sondern sie sehen sie einerseits unter den besonderen Bedingungen ihres Daseins und damit aus einer bestimmten Perspektive; andererseits bilden sie sich eine Anschauung von der Welt, indem sie dem, was sie sehen, eine Bedeutung zuschreiben und Theorien darüber entwickeln.

Erst in dem Augenblick, in dem sie dem Bezugsrahmen ihrer Wahrnehmung Widerstand entgegensetzen, ihn verschieben oder ihre Perspektive verändern würden, könnten sie zu einer Anschauung der Welt gelangen, die sie auch in die Lage versetzt, sich über die Bedingungen des Zustandekommens ihrer Anschauungen bewusst zu werden.

Wahrnehmen entpuppt sich so als eine Praxis, die nicht einfach gegebene Tatsachen ins Bewusstsein bringt, sondern an dem beteiligt ist, was Menschen für die Wirklichkeit halten. Wenn sie in der Lage sind, über die Bedingungen des Zustandekommens ihrer Wahrnehmung zu reflektieren, könnten sie ihre jeweiligen Perspektiven und Standpunkte explizit machen, erkennen und sich aufeinander beziehen.

Wahrnehmen wäre dann nicht nur ein rezeptiver, sondern vor allem ein produktiver Akt, auf dem Beziehungen selbstbestimmter Individuen beruhen könnten, die imstande sind, sich über ihre jeweiligen Standpunkte auszutauschen.

Vielleicht wäre das die Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe — wenn nicht gar für Demokratie.

Dieser Service wird von einem externen Anbieter bereitgestellt. Wenn Sie diesen Dienst nutzen möchten, erklären Sie sich mit der Datenverarbeitung durch den Anbieter follow.it einverstanden.
Zur Datenschutzerklärung