Mein Großvater war kein Widerstandskämpfer, wie man ihn sich vorstellt. Er galt als »Volksschädling«. Im KZ hatte er eine Nummer: die Nummer 48090. Er hatte sich in das politische Leben eingemischt, geriet in das Visier der Gestapo und damit in das dichte Netz von Denunzianten und Spitzeln, vor denen er nirgendwo sicher war: Seine Post wurde geöffnet, er wurde denunziert und Gespräche, die er mit seinen Freunden führte, wurden abgehört.
Der Frankfurter Generalstaatsanwalt meldete am 1. Juni 1938 an den Reichsminister der Justiz Einzelheiten aus Abhörprotokollen: Mein Großvater habe die Doppelmoral führender Nationalsozialisten beklagt, die sich in Spielclubs ein schönes Leben machten, während sie sich in der Öffentlichkeit als »Antikapitalisten« aufspielten; er habe die unmenschlichen Zustände in Konzentrationslagern angeprangert, der Gestapo Rechtsbeugung vorgeworfen und Stellung gegen die antisemitische Haltung der Nationalsozialisten bezogen; außerdem habe er erklärt: »Die Reichsstatthalter und Gauleiter müssen sich ja auch einmal für ihre Taten auf Erden vor Gott im Himmel verantworten«. Auf Grundlage der abgehörten Gespräche wurde er festgenommen und wegen »Heimtücke« angeklagt. Er kam wieder frei.
Am 6. Mai 1943 wurde mein Großvater abermals festgenommen und es wurde »Schutzhaft« gegen ihn angeordnet. Gegenüber einer Sicherheitsverwahrung, die von Gerichten ausgesprochen wird, war die Schutzhaft und die Einweisung in ein Konzentrationslager eine rein polizeiliche Maßnahme zur Verteidigung der »Volksgemeinschaft« gegenüber Volks- und Staatsfeinden und fiel in den Zuständigkeitsbereich der Gestapo. Sie vollzog sich in einem rechtsfreien Raum.
Mit der Unterbringung im KZ verlor mein Großvater jede Privatsphäre und war der lückenlosen Überwachung der Unterdrückungsorgane ausgeliefert — ein »bürokratisches System der Grausamkeit«.
Das massenhafte Sterben der Häftlinge im KZ folgte dem Konzept »Vernichtung durch Arbeit«: Sie wurden — wie mein Großvater — zur Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie verpflichtet. Goebbels notierte in sein Tagebuch: »Wer an dieser Arbeit zugrunde geht, um den ist es nicht schade«.
Am 13. April 1944 wurde mein Großvater bei einem der Luftangriffe der Alliierten auf die Rüstungsbetriebe der Messerschmitt AG verschüttet, weil es für Zwangsarbeiter keine Schutzräume gab. Er zog sich einen Oberschenkelhalsbruch und eine Rippenquetschung zu und wurde in das Krankenrevier des hoffnungslos überbelegten Hauptlagers Dachau gebracht.
Dort infizierte er sich am Flecktyphusvirus und starb, zwei Monate bevor die Amerikaner das KZ Dachau befreien konnten. An der Flecktyphus-Epidemie gingen im KZ Dachau seit Dezember 1944 insgesamt mindestens 14.511 Menschen zugrunde. Das waren 100 bis 150 Tote pro Tag.
Sie wurden verscharrt.