Peter Sinapius

„Zu den Sachen selbst“

ODER: VON BÜCHERN, DIE NICHT GELESEN WERDEN.
Vortrag im Rahmen der öffentlichen Ringvorlesung „Das Spiel als Mittel der Weltaneignung - Bezüge zu Kunst und Kunsttherapie” an der Alanus Hochschule Alfter am 16.10.24

Wenn Sie ein Buch in die Hand nehmen, tun Sie das in der Regel, um darin zu lesen. Wenn Sie es gelesen haben, stellen Sie es ins Regal neben andere Bücher. Vielleicht haben Sie die Bücher alphabetisch oder thematisch sortiert oder nach ihrer Farbe, ihrer Aufmachung, ihrer Materialität, nach ihrer Größe oder sie stapeln sie einfach zu Türmen auf dem Boden. Sie machen das, weil Bücher nicht nur bestimmt sind durch ihren Zweck und Nutzen, sondern auch durch ihre schiere Existenz: Sie sind einfach da und liegen irgendwo herum.

Wir sind gewohnt, die Dinge in erster Linie durch ihren Zweck zu definieren: Ein Buch ist zum Lesen da, ein Stuhl zum Sitzen und eine Tasse für den Kaffee. Mit der gleichen Logik gehen wir durchs Leben: Ich lese das Buch, damit ich die Prüfung schaffe. Ich setze mich in den Stuhl, um zu lesen. Ich trinke den Kaffee, damit ich wach werde. Wir haben ein Ziel und das Buch, der Stuhl, der Kaffee bringt uns dorthin. Nach dieser Logik funktioniert alles, das durch das Verhältnis von Weg und Ziel bestimmt ist. Unsere Leistungsgesellschaft ist nach dieser Logik konstruiert.

Was aber passiert, wenn das Medium, das mich zum Ziel befördern soll, selbst in den Vordergrund tritt? Die Geschichte in dem Buch, die mich ergreift. Der Stuhl, in den ich mich fallen lasse. Der Kaffee, der mich für einen Augenblick alles andere um mich herum vergessen lässt.

Darum soll es heute gehen. „Zu den Sachen selbst“ lautete die Aufforderung von Edmund Husserl (1984), mit der er die Phänomenologie überschrieben hat. Und bei den Sachen selbst sind wir, wenn sie ihren Zweck in sich selbst erfüllen. Eine Geschichte, die mich ergreift, dient keinem anderen Zweck, als sich als Geschichte zu verwirklichen. Ein Stuhl, in den ich mich fallen lasse, dient keinem anderen Zweck, als es mir bequem zu machen. Der Kaffee, den ich mir auf der Zunge zergehen lasse, dient keinem anderen Zweck, als seinen Geschmack zu entfalten. Damit beginnen wir uns in dem Bereich zu bewegen, in dem Kunst und Spiel zu Hause sind. Sie erfüllen ihren Zweck in sich selbst. Hans-Georg Gadamer hat das so beschrieben:

„Nur dann erfüllt ja Spielen den Zweck, den es hat, wenn der Spielende im Spielen aufgeht. Nicht der aus dem Spiel heraus weisende Bezug auf den Ernst, sondern nur der Ernst beim Spiel lässt das Spiel ganz Spiel sein. Wer das Spiel nicht ernst nimmt, ist ein Spielverderber. Die Seinsweise des Spieles läßt nicht zu, daß sich der Spielende zu dem Spiel wie zu einem Gegenstande verhält.“ (Gadamer 1990, S. 108).

Was aber hat dieses selbstzweckhafte Spiel mit Therapie zu tun? Zunächst einmal will jemand, der eine Therapie aufsucht, nicht spielen. Er kommt in die Therapie, weil er ein Problem hat, das er lösen will. Dann geht es zunächst um das Verhältnis von Weg und Ziel: Er fragt nach dem Weg zur Lösung des Problems, jemand zeigt ihm den Weg und er bewegt sich dann in Richtung Ziel. Das geht, wenn die Therapie über die Mittel zur Lösung des Problems verfügt. In einer medizinischen Therapie ist das gewöhnlich der Fall, wenn der Dreischritt Diagnose, Indikation, Intervention funktioniert. Bei einem Beinbruch folgt der Diagnose „Fraktur“ die Indikation „Reposition“ und danach als Intervention das Anlegen eines Verbandes oder das Eingipsen des Beines. Weg und Ziel sind bekannt: Das Ziel ist ein heiles Bein und der Weg ist der Verband oder der Gips.

Was aber, um mit Watzlawick (1987) zu sprechen, wenn die Lösung das Problem ist? Wenn die Lösung gar nicht in meiner Hand liegt, weil die üblichen Strategien nicht funktionieren? Was mache ich, wenn das Ziel und der Weg dorthin nicht die Lösung ist? Wenn weder Weg noch Ziel bekannt sind? Dann muss ich mich, um das Problem zu erforschen, auf einen Weg machen, der mir ebensowenig bekannt ist wie das Ziel. Wenn das der Fall ist, bewege ich mich im Unbestimmten und was das bedeutet möchte ich Ihnen an einem Beispiel aus der Natur zeigen.


Abb.: Wolkenbild, Graphit und Tusche auf Büttenkarton, 61×46 cm, 2023

Wolken bewegen sich im Unbestimmten. Sie sind kein Ding, sondern ein ständiges Werden und Vergehen. Wolken sind ein Gemisch aus Luft, Wind, Wasser und Temperatur. Sie kondensieren und verdunsten. Sie haben keinen Bestand. Ihre Identität ist nur geborgt. Wenn Licht und Feuchtigkeit aufeinandertreffen, tauchen sie auf. Wenn die Feuchtigkeit vergeht oder das Licht erlischt, erlöschen sie auch.

Wolken geben sich nicht zu erkennen. Es gibt keine Merkmale, die eine Wolke als diese eine Wolke ausweist. Ich kann nicht sagen: Diese Wolke habe ich schonmal gesehen, oder wenigstens: die habe ich vor ein paar Tagen gesehen. Es ist schier unmöglich eine Wolke von einer anderen so zu unterscheiden, dass ich sie immer als diese eine wieder erkenne. Immerhin aber gelingt es mir, Wolken von Steinen oder Bäumen zu unterscheiden. Wenn ich in den Himmel blicke, würde ich immer annehmen, dass dort Wolken sind. Oder Flugzeuge oder Vögel. Aber keine Steine oder Bäume.

In der Geschichte der Malerei galten Wolken lange Zeit als „unmalbar“. Ich habe versucht herauszufinden, warum das so ist und habe mich mit Tusche und Grafit an Wolkendarstellungen versucht (siehe Abbildung). Während ich Wolken zeichne, stoße ich fortwährend an die Grenzen meiner Wahrnehmung und bewege mich in einem Paradoxon. Ich halte mich im Unbestimmten auf und versuche es in etwas Bestimmtes zu überführen, das auf dem Zeichenpapier Gestalt gewinnt. Ich versuche aus dem Flüchtigen etwas Bleibendes zu machen. Wenn mir das gelingt, ist das Bleibende etwas Flüchtiges.

Dabei merke ich nicht nur, wie Bilder von Wolken entstehen, sondern auch, wie sie vergehen. Entweder realisiere ich Wolken oder sie verschwinden hinter einer Ansammlung von Linien und Schattierungen. Ich werde genau mit jener Ambivalenz konfrontiert, die mit der Absicht verbunden ist, etwas Unbestimmtes in etwas Bestimmtes zu überführen. Und das nicht nur im übertragenen, sondern im buchstäblichen Sinn.

Sobald ich meine Aufmerksamkeit den Linien und Schattierungen auf dem Papier schenke, verschwindet das Motiv — die Wolken — aus meiner Wahrnehmung. Und umgekehrt verschwinden die Linien und Schattierungen aus meiner Wahrnehmung, sobald es mir gelingt eine Wolke darin zu sehen. Wie in einer Kippfigur erscheint das eine mal eine zufällige Ansammlung von Hell-Dunkel-Flächen, das andere mal Wolken, die vorbeiziehen und sich aufbauschen.

Genau in dem Augenblick, in dem ich auf dem Papier Wolken realisiere, wird die Wahrnehmung an jene Stelle geführt, an der Bedeutungen entstehen und gleichzeitig in Frage gestellt werden. Wenn ich sage: „Das ist eine Wolke“ verfehle ich das Ungefähre und Flüchtige, das sich in der Grafik in einer Ansammlung von Strichen und Schattierungen verwirklicht und das eine Wolke ausmacht. Ohne die Wolke aber mit einem Begriff zu bezeichnen, der das Unbestimmte in etwas Bestimmtes überführt, würde ich selbst im Ungefähren und Flüchtigen untergehen.

So ähnlich verhält es sich, wenn die Lösung das Problem ist. Dann muss ich das tun, was ich mache, wenn ich eine Wolke zeichne: Ich bewege mich in das Unbestimmte hinein. Und das kann ich, wenn ich z.B. eine Geschichte erzähle, die es mir erlaubt, das Problem aus der Perspektive des Erzählers in den Blick zu nehmen, statt mich von dem Problem beherrschen zu lassen.

Das Besondere am Geschichtenerzählen ist, dass das Thema nicht in der Vergangenheit liegt. Die Geschichte entwickelt sich in der Gegenwart und in die Zukunft und damit ins Ungewisse hinein. Die Beteiligten wollen eine Ahnung davon haben, wie die Geschichte weitergehen könnte und vor allem wie sie zu Ende geht (vgl. Sinapius, 2007). Keith Johnstone charakterisierte diese Vorgehensweise mit Blick auf das Improvisationstheater folgendermaßen:

„Ein Improvisationsspieler muss wie ein Mensch sein, der rückwärts geht: Er sieht, wo er gewesen ist, aber er achtet nicht auf Zukünftiges. Seine Geschichte kann ihn überall hinführen, doch er muss ihr ein ›Gleichgewicht‹ und Struktur geben, das heißt, sich an vorangegangene Episoden erinnern und sie wieder in die Geschichte einführen.“ (Johnstone, 1993, S. 172).

Dabei löst sich die Grenze zwischen Erzähler*in und Geschichte auf. Das wird literaturwissenschaftlich als Metalepse bezeichnet und als performatives Erzählen charakterisiert (vgl. Strohmaier, 2010; 2013). Bei der Metalepse handelt es sich um eine Überschreitung der »Grenze zwischen zwei Welten: zwischen der, in der man erzählt, und der, von der erzählt wird« (Genette 1998, S. 168 f.). So leiht Paul Auster im ersten Teil der New-York-Trilogie (vgl. Auster, 1987) mit dem Titel »Stadt aus Glas« dem Krimiautor Daniel Quinn seinen Namen und taucht als Figur in einer fiktionalen Geschichte auf. Um eine ähnliche Metalepse handelt es sich, wenn sich Figuren einer Geschichte an ihren Erzähler wenden oder wenn der Erzähler gleichsam vor den Augen des Lesers ins Leben gerufen wird.

Wer Geschichten, Narrationen oder Motive »von innen« her erforscht, bewegt sich im Konjunktiv (vgl. White, 2010) und nicht im Indikativ. Er operiert mit dem Möglichen und dem Unbestimmten. Die Geschichten sind umso attraktiver für die Beteiligten, je mehr Lücken oder Leerstellen sie haben. Therapeut*innen haben nicht die Aufgabe, diese Lücken oder Leerstellen mit Deutungen oder Symbolen zu füllen, sondern sich mit den Patient*innen in ihnen so zu bewegen, dass sie eine narrative Struktur entwickeln und – einfach ausgedrückt – einen Anfang, eine Entwicklung oder einen Spannungsbogen und ein Ende haben. Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser beschreibt, was für jede Erzählung konstitutiv ist:

„Zentrale Strukturen von Unbestimmtheit im Text sind seine Leerstellen […] Sie gilt es als Kommunikationsbedingungen zu begreifen, da sie die Interaktion zwischen Text und Leser in Gang bringen und bis zu einem gewissen Grad regulieren.“ (Iser 1984, S. 283 f.)

Eine Geschichte ist nur spannend, wenn man nicht weiß, was als Nächstes geschehen wird. Wenn absehbar ist, was passiert, warum sollte man sie dann erzählen? Der Psychotherapeut White formuliert das so:

„Sobald wir [Therapeut*in und Patient*in, Anm. d. Verf.] zusammensitzen, weiß ich, dass wir uns auf eine Reise zu einem Ziel begeben, das nicht genau zu bestimmen ist, und dass wir Wege einschlagen, die nicht vorher festgelegt werden können. Ich weiß, dass wir wahrscheinlich einige höchst malerische Routen zu diesen unbekannten Zielorten nehmen werden. Ich weiß, dass wir in andere Erfahrungswelten eintreten werden, wenn wir uns diesen Zielen nähern.“ (S. 16)

Diese Art und Weise Geschichten zu erzählen ist etwas, das wir bereits dann machen, wenn wir Dinge sehen und zwischen den Dingen, die wir sehen, Zusammenhänge herstellen. Wenn ich eine Wiese sehe, sage ich einfach: „Da ist eine Wiese“. Wenn ein Reh auf der Wiese ist, sage ich: „Da ist eine Reh auf der Wiese“. Wenn das Reh Gras frisst, beginnt die Erzählung: „Ein Reh auf einer Wiese frisst Gras…“. Wie die Geschichte weitergeht, weiß ich nicht. Es wird irgendetwas sein, von dem ich nicht wußte, dass es passiert. Die Geschichte entwickelt sich ins Unbestimmte hinein.

Sich so auf die Reise zu einem Ziel zu begeben, das einem nicht bekannt ist, steht in einem Widerspruch zu einer gesellschaftlichen Praxis, bei der es darum geht, vorgegeben Wegen zu folgen um zu vorgegebenen Zielen zu gelangen. Das geschieht in der Regel mit der Absicht, uns die Welt verfügbar zu machen. Die Wege, die zum Ziel führen, werden verkürzt, begradigt oder zubetoniert, damit wir sicher und schnell da ankommen, wohin die Wege führen.

Ich möchte Ihnen hier eine etwas surreale Geschichte vortragen, in der die beiden unterschiedlichen Möglichkeiten, sich durch das Leben zu bewegen, miteinander konkurrieren. Die Geschichte stammt nicht aus der Therapie, sondern aus meiner eigenen Biografie. Sie hat sich an Fotos entzündet, die ich in einem Fotoalbum gefunden habe, das 60 Jahre alt ist. Die Fotos in diesem Album zeigen die Höhepunkte des Familienlebens oder das, was meine Eltern dafür hielten. Meistens sind das Ausflüge gewesen oder Urlaube oder Familienfeste. Die sorgfältigen Beschriftungen, die unter den Fotos platziert sind und denen ich das Jahr und den Anlass ihrer Entstehung entnehmen kann, ordnen die Fotos ein in eine Chronologie dieser Höhepunkte. Dahinter gibt es aber eine andere Geschichte, die sich nicht als Höhepunkte einer Familienchronik erzählen lässt. Das ist die Geschichte eines kleinen Jungen, der acht, neun oder zehn Jahre alt war und der ich einmal gewesen bin.

Nun kann ich mich an das, was auf den Fotos abgebildet ist, gar nicht mehr erinnern. Was ich aber machen kann, ist, dem Blick derjenigen zu folgen, die auf den Fotos zu sehen sind und das, was sie sehen, aus ihrer Perspektive zu erzählen. Was ich erzähle, versucht sich nicht an Tatsachen zu orientieren, also daran, was einmal passiert ist, sondern ausschließlich an der Dynamik, die die Erzählung selbst entwickelt.
In der Geschichte spiele ich als 10-jähriger Junge eine Rolle, den ich in der Geschichte „der Kleine“ nenne. Gleichzeitig bin ich als Erzähler beteiligt, der inzwischen 69 Jahre alt ist und aus der Ersten-Personen-Perspektive die Geschichte erzählt. Und es gibt ein kleines gußeisernes Schwein mit Flügeln, das in meinem Schrank in einer Schachtel zu Hause ist und das ich immer dann aufsuche, wenn ich mit Jemanden reden will, um mir über diese Geschichten klar zu werden. Das Tier ist sozusagen mein „Alter Ego“.

„Ich sitze am Schreibtisch in meinem Atelier und habe ein sechzig Jahre altes Fotoalbum mit Fotos aus meiner Kindheit in den Händen.
Die insgesamt zehn Fotos über eine Zeltreise befinden sich auf vier aufeinander folgenden Seiten. Zwischen diesen Fotos stelle ich einen narrativen Zusammenhang her. Unter den ersten auf einer Doppelseite angeordneten fünf Fotos steht: 1965. Kärnten. Weißensee. 930 m über dem Meeresspiegel. Wir befinden uns auf einem Zeltplatz umgeben von Bergen, soweit das Auge reicht.

Das erste Foto gibt der Geschichte eine absurde Richtung. Der Kleine und sein Bruder übersteigen einen Holzzaun. Sie gucken wie kleine Macker in die Gegend. Sie haben dunkle Sonnenbrillen im Gesicht, durch die man kaum etwas sehen kann. Im Kontrast dazu tragen sie kurze, alberne Wollhosen und langärmlige T-Shirts. Der Bruder hält lässig einen Fußball im Arm. An ihren Füßen hängen billige Badelatschen, mit denen man unmöglich Fußball spielen kann. Aber es gelingt den Beiden irgendwie, damit über den Zaun zu steigen, der den Zeltplatz von der angrenzenden Wiese trennt.

Die Brüder haben kein Interesse an Fußball, sondern wollen wissen, was man mit einem Ball alles machen kann. Sie balancieren ihn auf dem Kopf oder auf dem ausgestreckten Zeigefinger, sie klemmen ihn sich zwischen die Beine und versuchen ihn beim Gehen nicht zu verlieren, sie stopfen sich ihn unter ihre T-Shirts und tun so, als hätten sie zu viel gegessen, sie setzen sich drauf, wenn sie müde sind und sie streiten sich um den Ball, wenn sie ihn auch einmal haben wollen.

Dann sehen sie ihren Vater, der in dem Schatten eines Baumes mit verknoteten Beinen auf einem wackligen Campingstuhl sitzt. Sie verknoten auch ihre Beine, dann ihre Arme, pressen den Ball zwischen ihre Schultern und versuchen nebeneinander her zu laufen, ohne den Ball zu verlieren.

Ihr Vater sitzt immer noch mit verknoteten Beinen auf dem Campingstuhl und liest „Schuld und Sühne“ von Dostowjeski. Die beiden gehen hin und fragen, ob sie sich das Buch mal ausleihen können. Er gibt es ihnen, weil er findet, dass es ihnen nicht schaden könnte, wenn sie auch mal ein Buch lesen. Sie lesen das Buch nicht. Sie gehen zurück auf die Wiese und legen es vorsichtig auf den Ball, den sie auf dem Kopf balancieren. Das Buch fällt runter. Sie probieren es wieder. Das Buch bleibt oben.

Sie sehen, wie ihre Mutter vor einer Tasse mit Nescafe sitzt, gehen zu ihr hin und bitten sie um die Tasse mit dem Nescafe. Sie zeigt auf die andere Seite des Campingtisches, auf der die Tasse vom Vater steht. Sie sagt: „Nehmt Vaters Tasse. Der ist gerade nicht da. Er sitzt unter einem Baum und liest ein Buch.“

Sie nehmen die Tasse mit dem Nescafe, gehen zurück zur Wiese und stellen die Tasse auf das Buch von ihrem Vater, das auf dem Ball liegt, den sie auf ihrem Kopf balancieren. Dann setzen sie ihre Sonnenbrillen ab. Sie haben inzwischen zwei Bälle. Sie setzen den Bällen die Brillen auf, balancieren sie auf ihrem Kopf, legen abwechselnd das Buch des Vaters darauf und zum Schluss die Tasse mit dem Nescafe. Irgendwann kippt die Tasse mit dem Nescafe um und ihr Inhalt ergießt sich auf dem Buch ihres Vaters. Sie nehmen sich vor es im Seewasser zu waschen.

Inzwischen sind ihre Schwester und ihre Mutter auf sie aufmerksam geworden und beobachten aus der Ferne ihre Kunststücke. Ihre Schwester sitzt auf einem gestreiften Badetuch. Ihre Mutter hat einen gestreiften Rock an. Sie freuen sich.

Die beiden Jungen gehen zu ihnen hin und lassen die Luft aus den Bällen. Der Bruder vom Kleinen setzt sich auf seinen Ball, damit die Luft besser entweicht. Die Spannung lässt nach. Nicht nur in den Bällen. Sie beschließen im Wasser weiterzumachen und gehen zum See. Ihre Schwester macht mit. Der Kleine sitzt auf einem Gummiboot und die Schwester steht auf einer Luftmatratze. Sie fahren um die Wette. Ich weiß nicht, wer gewinnt.

Der Bruder vom Kleinen steht im knietiefen Wasser und holt das Buch seines Vater aus dem Wasser.

An dieser Stelle bricht die Geschichte ab, weil die Fotos im Album für ihren Fortgang keine Anhaltspunkte liefern. Ich bin mit dem Ende der Geschichte nicht einverstanden, greife auf die dunklen Wolken aus meinen Zeichenstudien zurück und lasse am Himmel ein heftiges Gewitter aufziehen.

Die Kinder scheren sich nicht um das Gewitter, sondern spielen vergnügt weiter im Wasser, fahren Boot oder versenken Bücher. Ihre Eltern haben aber das aufkommende Gewitter bemerkt. Sie räumen hastig alles ins Zelt, was nicht naß werden soll. Dann eilen sie zum See und suchen ihre Kinder. Es stürmt schon heftig und die Kinder freuen sich über die Wellen, die der Sturm an das Ufer treibt. Die Eltern entdecken sie schließlich in einer kleinen Bucht, fuchteln am Ufer mit ihren Armen, zeigen auf die Wolken am Himmel und schreien sich die Seele aus dem Leib. Der Bruder vom Kleinen lässt erschrocken „Schuld und Sühne“ wieder ins Wasser fallen und der Kleine und seine Schwester rudern hastig ans Ufer. Inzwischen beginnt es heftig zu regnen, in der Ferne hört man ein Donnergrollen und die Eltern eilen mit ihren Kindern zum Zelt in der Hoffnung, dass es der Sturm noch nicht fortgetragen hat.

Ich lege das Fotoalbum aus der Hand und sehe nach, ob das Buch von Dostowjeski noch in meinem Regal steht. Es ist noch da. Ich gehe zu der Zeichnung mit dem aufziehenden Gewitter. Die Wolken haben sich nicht von der Stelle bewegt.

Ich nehme die Zeichnung und das Fotoalbum und gehe damit zu dem Tier in meinem Schrank. Es begrüßt mich mit einem Grunzen, das sich anhört wie eine Haufen- oder Quellwolke auf meinen Zeichnungen. Ich zeige dem Tier die Zeichnung mit den Gewitterwolken am Himmel, erzähle von den Kunststücken, die die Brüder mit dem Ball aufgeführt haben, von dem Buch, das nicht schwimmt und von dem aufziehenden Gewitter, das dem Spiel ein Ende bereitet hat.

Das Schwein stellt sich hin, streckt seinen Kopf nach vorne und schimpft: „Was für ein Unsinn! Haben die beiden nichts Besseres zu tun, als Bücher zu ruinieren?“
Ich widerspreche: „Warum sollen sie nicht ausprobieren, was man mit Büchern machen kann? Kinder lesen keine dicken Bücher, schon gar nicht Romane von Dostowjeski! Kinder interessiert es nicht, wofür Sachen da sind, sondern was man mit ihnen machen kann!“
„Das ist doch Unsinn! Bücher werden doch gemacht, damit sie gelesen werden und nicht, damit man sie im Wasser versenkt!“, widerspricht es.
Ich nehme das gußeiserne Schwein aus seiner Schachtel und stelle es neben die Bücher ins Regal: „Wie findest du das?“, frage ich.
Das Schwein gerät in Wallung und vollzieht eine 180-Grad-Wendung: „Ja, das hättest du gerne: Dass ich als Deko in deinem Regal rumstehe!“
„Was willst du denn? Deswegen hat man dich in Eisen gegossen!“
Das Schwein stößt auf: „Das ist es ja: Man hat Dekoration aus mir gemacht.“
„Sag ich doch!“, sage ich.
Das Schwein grunzt empört: „Unverschämtheit! Du kannst mit mir doch nicht machen, was du willst!“
„Was willst du denn?“
Das Schwein zieht eine Grimasse, dann schüttelt es seinen dicken Kopf und sagt nach einer Weile: „Lies mir eine Gute-Nacht-Geschichte vor. Ich will schlafen.“
Ich bringe das Tier zurück in den Schrank, schlage „Schuld und Sühne“ auf und beginne daraus vorzulesen. Das Schwein legt sich auf seinen Bauch und denkt an Bücher, die im Wasser versenkt werden.

Nach fünf Minuten schläft es ein.”

Literatur:
Auster, P. (1987): The New York Trilogy. London: Faber & Faber.
Gadamer, H.-G. (1990): Wahrheit und Methode – Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr.
Genette, G. (1998): Die Erzählung. München: Wilhelm Fink.
Husserl, E. (1984): Husserliana. Bd. 19, Teil 1: Logische Untersuchungen. Hg. v. U. Panzer. Den Haag: Nijhoff.
Iser, W. (1984): Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München: Wilhelm Fink.
Johnstone, K. (1993): Improvisation und Theater. Berlin: Alexander.
Sinapius, P. (2007): Therapie als Bild – Das Bild als Therapie/Grundlagen einer künstlerischen Therapie. Mit einem Vorwort v. P. d. Smit. 2., durchgesehene Auflage. Frankfurt am Main: Peter Lang.
Strohmaier, A. (2010): Zur Performativität des Narrativen: Vorüberlegungen zu einer performativen Narratologie. In: Munz, V.; Puhl, K.; Wang, J. (Hg.): Language and World. Part Two: Signs, Minds and Actions. Frankfurt am Main: Ontos, S. 77–93.
Strohmaier, A. (Hg.) (2013): Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften. Bielefeld: transcript.
Watzlawick, P. (1987): Wenn die Lösung das Problem ist. Vortrag. SWR-Tele-Akademie (Video). https://www.youtube.com/watch?v=cl4aZTPsTSs (abgerufen am 04.10.2024)
White, M. (2010): Landkarten der narrativen Therapie. Heidelberg: Carl-Auer.

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