„Denken doch alle so…“

Als ich diese Straßenumfragen aus den 60ern sah, konnte ich’s kaum glauben. Die Leute auf der Straße konnten sich weder Frauen am Steuer noch Männer mit langen Haaren vorstellen. Das fanden sie nicht „normal“. Und was nicht „normal“ ist, das „gehört sich nicht“.

Das „Volk“ hat sich aber geirrt. Frauen fahren inzwischen Auto und wenn Männer lange Haare haben, ist das in Ordnung. Die Normen haben sich geändert. 

Was normal ist, gilt aber immer noch als Maßstab für politische Entscheidungen. Ob es das Stadtbild ist, das Gendern oder das „vegane Schnitzel“: Immer wieder wird „der Deutsche“ zitiert, der dazu eine Meinung hat. „Der Deutsche“ hat auf der Straße Angst vor herumlungernden Taugenichtsen, er ist für eine klare Geschlechtertrennung und will Fleisch statt Soja zum Mittagessen. Manchmal wird dieser Deutsche einfach „die politische Mitte“ genannt. Meistens dient er als stichhaltiges Argument in der politischen Debatte, die einem das eigene sachkundige Urteil ersparen soll.

Demnach hat derjenige Recht, der so spricht, wie „das Volk“ spricht. Wer daran zweifelt, der ist „Anti-Demokrat“ — meint jedenfalls der „Focus“ und schreibt: „…viele Zeitgenossen verhalten sich, als ginge vom Volk eine Gefahr aus: zu einfältig, zu manipulierbar, zu anfällig für Populismus. Doch wer so elitär denkt, ist der wahre Anti-Demokrat.“

Das, was der „Focus“ „das Volk“ nennt, das angeblich aus jedem „normalen“ Menschen auf der Straße spricht — das soll einem das Denken ersparen. Früher nannte man das „das gesunde Volksempfinden“ als Umschreibung für die angeblich unverbildete Meinung einer „gesunden Volksgemeinschaft“. Im Nationalsozialismus wurde daraus ein Rechtsbegriff.

Dieses Volksempfinden wird immer dann bemüht, „wenn bewiesen werden soll“, so sagte einmal Joachim Hammann, „dass der Irrsinn, den man verzapft, nicht nur wahr und richtig und gesund (!) ist, sondern dass darüber hinaus alle so denken“. Dann ist das, was man verzapft hat, eben „normal“.

Normal ist, wenn morgens die Sonne aufgeht. Das ist überall auf der Welt so. Normal ist aber auch, dass ein Schnitzel aus Fleisch besteht und Frauen das Essen machen. Das nennt man dann die „normative Normalität“.

Und wenn die herrscht, wird es dunkel in Deutschland.

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