Peter Sinapius

Wie ist es eine Farbe zu sein?
Kunst als therapeutische Praxis

Virtueller Vortrag an der MSH Medical School Hamburg am 11.11.2020

Ich weiß nicht, ob Sie sich schon einmal gefragt haben, wie es ist eine Farbe zu sein. Eine Farbe ist schließlich kein Lebewesen, sondern ein physikalischer Zustand. Genauso gut könnte man sich fragen, wie es ist ein Tisch zu sein oder ein Hut oder eine Straßenlaterne. Bei genauem Hinsehen zeigt sich, dass das gar nicht so abwegig ist und dass es in unserer Kulturgeschichte eine Fülle anthropomorpher Vorstellungen und Darstellungen gibt, die Tieren, Naturgewalten, Gegenständen oder sogar Maschinen menschliche Eigenschaften zuschreiben. Wir haben beispielsweise kein Problem, einen abgestorbenen Baum, den Caspar David Friedrich in das Zentrum einer Landschaftsdarstellung rückt, als Metapher für menschliche Erfahrungen von Tod und Vergänglichkeit zu lesen. Und die Frontpartie eines Autos bringen wir, wenn wir sie sehen, unweigerlich mit der menschlichen Physiognomie in einen Zusammenhang. Was passiert, wenn wir das tun und was hat das mit Kunsttherapie zu tun?

Um diese Frage zu klären, werde ich mich weniger mit der kunsttherapeutischen Praxis im engeren Sinne beschäftigen, als mit der Frage, was unsere Lebenswirklichkeit ausmacht und wie sie durch unsere Wahrnehmung bestimmt wird. Ich überlasse es Ihnen, daraus Schlüsse für die Kunsttherapie zu ziehen.

Wer therapeutisch tätig ist, möchte seine Patient*innen verstehen. Er versucht sich in sie einzufühlen oder fragt sich, wie es wohl ist, ein anderer Mensch zu sein. Als Therapeut*in möchte ich wissen, warum ein anderer Mensch tut, was er tut, was er denkt oder fühlt – kurz: Warum er so ist, wie er ist. Dafür brauche ich Empathie und Einfühlungsvermögen. Es gibt ganz unterschiedliche Konzepte und Theorien, die versuchen, darauf systematisch eine Antwort zu finden. Aus einer kognitiven Perspektive werden körperliche Symptome als Äußerungen psychischer Zustände gelesen, die mit Hilfe von Klassifikationssystemen diagnostisch als gesund oder krank eingestuft werden. Oder es werden Handlungen als symbolische Akte interpretiert, die etwas bedeuten und Rückschlüsse auf das Innenleben der Betroffenen erlauben. Als emotionale Empathie bezeichnet man dagegen den Versuch durch eine Art Perspektivwechsel den Standpunkt eines Anderen einzunehmen, um sich in seine Erlebniswelt einzufühlen. Und schließlich gibt es die Vorstellung, dass spezifische Medien – wie beispielsweise das Malen von Bildern – genutzt werden können, um Unbewusstes zum Ausdruck zu bringen, so dass seelisches Material an die Oberfläche tritt und damit sichtbar wird, was gewöhnlich nicht sichtbar ist. Immer braucht es, wie es scheint, ein Vermittelndes, ein Medium, durch das das Innenleben eines Anderen in irgendeiner Weise einer Deutung oder Interpretation zugänglich werden: seien es Symptome, die auf eine körperliche oder seelische Disposition hinweisen, Symbole oder Handlungen, die etwas bedeuten oder eben bildnerische oder sprachliche Äußerungen, in denen sich etwas aus der Erlebniswelt des Anderen manifestiert. Dabei scheint das Medium in unterschiedlicher Art und Weise daran beteiligt zu sein, was sich über die Erlebniswelt eines anderen mitteilt.

Grundsätzlich aber zeigt sich – und damit gelangen wir zum Kern philosophischer Diskurse – dass es nicht möglich ist, einen unmittelbaren Zugang zum Innenleben eines anderen Menschen zu haben. Was ein Mensch denkt oder fühlt, welche Motive er hat oder wie er seine Umwelt wahrnimmt, bleibt immer eingeschlossen in sein subjektives Bewusstsein. Selbst die kühnsten Phantasien über die digitalen Möglichkeiten von Gedankenkontrolle und Überwachung, z.B. durch Messung neuronaler Aktivitäten oder durch die Einpflanzung von Microchips, können zwischen meinem Bewusstsein und dem eines Anderen keine Brücke bauen. Was und in welcher Weise ein anderer wahrnimmt und denkt bleibt für mich grundsätzlich unerreichbar. Ich möchte in diesem kleinen Vortrag darlegen, dass die einzige Möglichkeit, miteinander zu teilen, wie wir die Welt wahrnehmen, wie wir sie erleben und was wir über sie denken, mediale und vor allem ästhetische Praktiken sind.

Die Frage, wie ich eine Brücke schlagen kann zu der Erlebniswelt einer mir fremden Person hat eine erhebliche Bedeutung für die therapeutische Praxis und eine lange philosophiegeschichtliche Tradition. „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ fragte 1974 der amerikanische Philosoph Thomas Nagel in einem viel diskutierten Aufsatz (Nagel 1981), um darauf aufmerksam zu machen, dass wir mit naturwissenschaftlichen Erkenntnismethoden kaum die Frage beantworten können, wie es ist, ein anderes Wesen – in diesem Fall ein Fledermaus – zu sein. Der australische Philosoph Frank Jackson machte unter dem Titel „Was Mary nicht wusste“ 1982 ein weiteres Gedankenexperiment, das den Gedanken Nagels fortführte, indem er sich fragte, wie wir die uns umgebende Wirklichkeit sinnlich erleben und ob es möglich ist, dieses Erleben mit naturwissenschaftlichen Methoden darzustellen und intersubjektiv zugänglich zu machen (Jackson 1982). Als Beispiel wählte er unseren sinnlichen Zugang zu dem, was uns als Farben umgibt, indem er folgendes Gedankenexperiment heranzog: Mary, so sein Gedankenexperiment, ist eine hoch qualifizierte Wissenschaftlerin, die aus irgendeinem Grunde ihr Leben in einem Raum verbringt, in dem es nur schwarze, weiße und graue Farben gibt. Ihr Spezialgebiet ist die Neurophysiologie des Sehens. Sie eignet sich „alle physikalischen Informationen an, die verfügbar sind, über das, was passiert, wenn wir reife Tomaten oder den Himmel sehen, und Begriffe wie ‚rot’, ‚blau’, usw. benutzen.“ Nun fragt Frank Jackson, was passieren wird, „wenn Mary aus ihrem schwarzweißen Raum gelassen wird oder wenn man ihr einen Farbfernseher gibt? Wird sie etwas lernen oder nicht?“

Ohne auf die philosophische Diskussion über das Verhältnis zwischen leiblichen Erfahrungen und geistigen Erkenntnissen eingehen zu wollen, die mindestens seit Descartes heftig geführt wird, ist vermutlich unstrittig, dass Mary neue Erfahrungen machen wird. Sicher bleibt das Erlebnis auch nicht ohne psychische oder sogar psychophysiologische Auswirkungen, die man untersuchen und beschreiben könnte. Vielleicht wird sie ihrem Erstaunen angesichts der Farben um sie herum mit einem „Wow!“ Ausdruck verleihen. Der eigentliche Erfahrungsinhalt aber, was eine Farbe ist, ist weder auf diese Weise noch mit den physikalischen Informationen, die Mary zur Verfügung stehen, ohne weiteres darstellbar. In der Wissenschaft hat man ihn einfach jenen Phänomenen zugeschlagen, die man „Qualia“ nennt (Jackson 2006). Jedoch löst weder der Begriff „Qualia“ noch die Tatsache, dass Mary „Wow“ macht, das Problem, das wir nicht wissen oder darstellen können, was Mary als Farbe wahrnimmt. Ihre Wahrnehmung bleibt uns ebenso verschlossen wie das Innenleben einer Fledermaus.

Verknüpft man die Frage „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ mit dem Gedankenexperiment von Jackson, gelangt man zu der Frage: „Wie ist es eine Farbe zu sein?“. Diese Frage ist nicht nur eine gedankliche Fingerübung, sondern führt ins Zentrum unserer Wahrnehmung von der Welt: Anders als beispielsweise Formen sind Farben, die wir wahrnehmen, nicht meßbar. Was wir messen können, sind die Wellenlängen des Lichts, die wir aber nicht sehen – was wir sehen, sind Farben. Die Naturwissenschaften können zwar die Bedingungen, unter denen wir Farben wahrnehmen, beschreiben, die damit verbundenen Phänomene, die wir als rot, gelb oder blau bezeichnen, verbleiben aber im Bereich der subjektiven Erfahrung. Was die Naturwissenschaften nicht zu erfassen im Stande sind, kann die Literatur. Das hat Orham Pamuk (2006) in seinem Roman „Rot ist mein Name“ getan, indem er die Farbe Rot mit der Fähigkeit ausstattet, selber zur Sprache zu kommen. In seinem Roman „Rot ist mein Name“ lässt Orham Pamuk die Farbe Rot folgendermaßen sprechen:

„Ich höre euch fragen: Wie ist das, wenn man eine Farbe ist? Farbe ist die Berührung des Auges, die Musik der Taubstummen, ein Wort in der Dunkelheit. Meine Berührung, würde ich sagen, gleicht der Berührung der Engel, da ich seit Zehntausenden von Jahren dem Raunen der Geister von Buch zu Buch, von einem Gegenstand zum anderen wie dem Sausen des Windes gelauscht habe. Ein Teil von mir spricht hier zu euren Augen, das ist meine schwere Seite. Ein Teil von mir wird in der Luft durch eure Blicke beflügelt, das ist meine leichte Seite.
Und wie glücklich bin ich, Rot zu sein! Mein Inneres brennt. Ich bin stark; ich weiß, daß ich wahrgenommen werde, und auch, daß ihr mir nicht widerstehen könnt.
Ich verberge mich nicht: Für mich verwirklicht sich Feinheit nicht durch Schwäche oder Kraftlosigkeit, sondern nur durch Entschlossenheit und Willenskraft. Ich zeige mich offen. Ich fürchte mich nicht vor anderen Farben, Schatten, vor Massengedränge oder gar Einsamkeit. Wie herrlich, eine mich erwartende Oberfläche mit dem Feuer meines Sieges auszufüllen! Wo ich mich verbreite, glänzen die Augen, erstarken die Leidenschaften, heben sich die Brauen, schlagen die Herzen schneller. Seht mich an, wie schön ist es zu leben! Betrachtet mich, wie schön ist es zu sehen! Leben ist sehen. Ich bin überall sichtbar. Glaubt mir nur, mit mir beginnt das Leben, zu mir kehrt alles zurück.…
Ich habe einmal in einer persischen Stadt dem Zwiegespräch zwei blinder Altmeister gelauscht, während ich mit dem Pinsel eines Lehrlings auf die Stickereien an der Satteldecke des Pferdes aufgetragen wurde, das einer der Blinden aus denn Kopf gezeichnet hatte.
„Nach einem ganzen Leben gläubiger Hingabe an unsere Arbeit, die uns am Ende natürlich erblinden ließ, wissen wir und erinnern uns daran, was für eine Farbe, was für ein Gefühl das Rot ist“, sagte derjenige, der das Pferd aus denn Kopf gemalt hatte. „Wie aber könnten wir dieses Rot begreifen, das unser schöner Lehrling gerade aufträgt, wenn wir blind geboren worden wären?“
„Eine gute Frage“, meinte der andere, „doch Farben begreift man nicht, man erfühlt sie.“
„Erklärt einem, der die Farbe niemals sah, was Rot ist, großer Meister.“
„Würden wir es mit der Fingerspitze berühren, wäre es etwas zwischen Eisen und Kupfer. Auf die Handfläche gelegt, würde es brennen. Würden wir es kosten, wäre es kräftig wie gesalzenes Fleisch. Nähmen wir es in den Mund, würde der ausgefüllt sein. Würden wir daran riechen, gliche es dem Geruch eines Pferdes. Und wäre sein Duft der einer Blume, dann gliche er dem der Kamille, nicht aber dem der roten Rose.“…
„Welche Bedeutung hat dieses Rot?“ fragte wiederum der blinde Illustrator, der das Pferd aus dem Kopf gezeichnet hatte.
„Die Bedeutung der Farben liegt darin, daß sie dort vor uns sind und daß wir sie sehen“, sagte der andere. „Wer nicht sieht, dem kann man das Rot nicht erklären.“…
Wer nicht sieht, leugnet ab, dennoch bin ich überall.“ (ebenda, S. 252-254)

Orhan Pamuk überführt die sinnliche Erfahrung über die Farbe Rot in ein Stück Literatur, an dem der Leser selber eine Erfahrung machen kann. Das Vermittelnde zwischen der subjektiven Erfahrung der Farbe Rot und der Wahrnehmung des Lesers ist eine Geschichte, in der das Rot der Hauptakteur ist. Wer den Roman von Orhan Pamuk liest, versteht etwas von diesem Rot, weil er sie mit eigenen Erfahrungen in eine Verbindung bringen kann. Er weiß wie kräftig gesalzenes Fleisch schmeckt, wie eine Rose riecht oder wie es ist, wenn etwas auf der Handfläche brennt. Das heißt, was er über die Farbe Rot in Erfahrung bringt, ist immer bezogen auf andere Erfahrungen, in deren Kontext die Farbe Rot erscheint: Er bezieht sie auf andere Sinneseindrücke, die aktiviert werden, wenn er die Farbe rot sieht. Wir können so über die Farbe Rot sprechen, weil wir sie in ein Verhältnis setzen können zu anderen Wahrnehmungsphänomenen, die wir kennen und die uns vertraut sind: wir setzen sie in ein Verhältnis zu anderen Farben, vor deren Hintergrund sie erscheint, zu anderen Sinneseindrücken, durch die sie sich in einer besonderen Weise qualifiziert oder zu Situationen, in der sie eine bestimmte Rolle gespielt hat. Die Farbe Rot, die wir sehen, ist nicht einfach etwas Gegebenes, das unabhängig von dem existiert, was wir in der Welt sonst noch wahrnehmen, sondern sie ist eingebettet in unsere Erfahrungen und Geschichten und wird durch sie erst hervorgebracht.
Was wir über unsere Wahrnehmung von unserer Lebenswelt erzählen oder zum Ausdruck bringen – sei es über Fledermäuse, Farben oder oder andere Menschen – ist folglich nicht identisch mit dem, was sich objektiv darüber sagen lässt.

Es ist ein erheblicher Unterschied, ob wir uns mit der Frage beschäftigen, wie es ist, eine Farbe zu sein oder was eine Farbe ist. Darüber, was eine Farbe im physikalischen Sinne ausmacht, kann die Wissenschaftlerin „Mary“ Auskunft geben. Über die Frage, wie es ist eine Farbe zu sein, spricht kein Wissenschaftler, sondern Orhan Pamuk als Literat.
Es ist ein erheblicher Unterschied, ob wir uns mit der Frage beschäftigen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein oder mit der Frage, was eine Fledermaus ist. Über letzteres ließe sich sehr spezifisch und wissenschaftlich nachvollziehbar etwas sagen, dagegen sind ontologische Fragen wie die über das Wesen einer Fledermaus etwas, über das weder physikalische oder biologische Untersuchungen noch empirische Daten, die sich aus der sinnlichen Anschauung erschließen lassen, Aufschluss geben können. Sie führen uns eher in der Bereich der Mythen und Legenden, in denen Fledermäuse als Verkörperung des Bösen gelten, die gleich Vampiren sich von menschlichem Blut ernähren.
Es ist ein erheblicher Unterschied, ob wir uns mit der Frage beschäftigen, wie es ist ein anderer Mensch zu sein oder mit der Frage, was ein Mensch ist. Über letzteres kann die Wissenschaft Auskunft geben, indem sie z.B. das Zusammenwirken aller physikalischen, chemischen und biochemischen Vorgänge im Organismus als physiologische Vorgänge untersucht. Darüber, wie es ist ein Subjekt zu sein, geben objektive Daten keine Auskunft. Im Unterschied zu Fledermäusen können wir uns aber mit anderen Menschen verständigen. Dazu dienen uns Medien wie die Sprache, Bilder, Gesten oder Töne, durch die wir sinnlich in Beziehung zueinander gelangen. Das können wir symbolisch tun oder auch ästhetisch. Um über unsere Erfahrungen zu sprechen, die wir machen, wenn wir die Farbe Rot sehen, müssen wir sie in irgendeiner Form sinnlich zur Erscheinung bringen – so wie es beispielsweise Orhan Pamuk gemacht hat, wenn er eine Geschichte darüber erzählt oder wie wir es machen könnten, wenn wir ein Bild malen, durch das uns die Farbe Rot im Kontext anderer Farben ästhetisch zugänglich wird.

Die Fähigkeit, Dinge, Phänomene oder Situationen in dieser Weise ästhetisch wahrzunehmen ist eine Grundlage für soziales Handeln. Hirnforscher des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung haben vor einigen Jahren untersucht (Sänger et. al 2012), wie das Zusammenspiel von Musikern funktioniert und wie es möglich ist, dass sie so präzise und einfühlsam miteinander agieren können. Sie fanden heraus, dass die Interaktionen der Musiker mit einem hochsensiblen Wahrnehmungs- und Abstimmungsverhalten verbunden sind, das dazu führt, dass ihre Hirnströme schon nach kurzer Zeit synchron in genau dem gleichen Rhythmus verlaufen. Ein Prinzip, das nach Einschätzung der Forscher auch sozialem Handeln zu Grunde liegt.
Nun müssen die Musiker, um miteinander Musik zu machen, nicht wissen, was in ihren Köpfen ihre Hirnströme machen, aber sie wissen, wie es ist, miteinander zu musizieren. Wenn die Einschätzung zutrifft, dass musikalische Interaktionen sozialen Interaktionen ähneln, könnte das gemeinsame Musizieren ein Modell sein für soziales Handeln. Was hier naturwissenschaftlich beforscht wird, indem die Hirnströme gemessen werden, wäre dann nutzlos ohne die ergänzende Frage, welcher Fähigkeiten es bedarf, um auch in sozialen Prozessen ästhetische Wahrnehmungs- und Handlungskompetenzen zu mobilisieren. Diese Frage betrifft den Kern der künstlerischen Praxis in der therapeutischen Praxis: den Zusammenhang zwischen ästhetischen und sozialen Praktiken.

Der südafrikanische Künstler William Kentridge (2018) arbeitet an dieser Nahstelle: Er holt, wie er sagt, die Welt in sein Atelier, nimmt sie auseinander und setzt sie wieder neu zusammen. Seine Sigmund Freud Vorlesung 2017 hat er überschrieben mit dem Titel: „In Verteidigung der weniger guten Idee“ (ebenda). Darin beschreibt er die Aktivitäten des von ihm gegründeten „Zentrums der weniger guten Idee“. Sowohl künstlerisch als auch politisch folgt, so sagt er, den großen Ideen meist ein großes Desaster, während die weniger guten Ideen in der Lage sind, Vorstellungen von dem, was gut und richtig ist, ins Wanken zu bringen, weil sie sowohl provisorisch als auch vergänglich sind. Und weiter sagt er: „Wir sehen also, dass jeder Aspekt unseres Weltverständnisses biografisch unterlegt ist. Immer, wenn jemand sagt „Die Welt ist…“ oder eine objektive Aussage macht, dann bleibt jene Einfärbung des Verstehens außen vor, die im Atelier sehr klar hervortritt, insofern die Zeichnung oder der Film stets eine Membran zwischen uns und der Welt bildet. Die Welt kommt also herein und trifft auf halber Strecke auf das Blatt Papier“. (ebenda, 49)
Wenn er zeichnet, so beschreibt er seine Arbeit, werden das „Werk und die Worte zu einem Selbstportrait, das nicht nur die Dinge und die angebrachten Zeichen oder die geschriebenen Worte zeigt, sondern auch den Urheber, der nicht entkommen kann. Ich zeichne: Selbstportrait als Kaffeetasse, als Nashorn, als Hotel, als Landschaft.“ (ebenda, 56) Und wir könnten hier noch anfügen: als Fledermaus, als Farbe, als Hut, als Straßenlaterne. Diese Dinge lassen sich nicht reduzieren auf das objektiv Sagbare oder das Offensichtliche, das, was sie unwidersprochen zu sein scheinen und wie sie gängigen Vorstellungen entsprechen: „Wir können uns das Atelier als einen Ort vorstellen,“ so sagt Kentridge, „an dem die Welt hereingebeten wird. Sie kommt sowohl in Form physischer Objekte als auch in Form geistiger Ereignisse: Zeichnungen, Fotos, E-Mails, Telefongespräche, Erinnerungen, in denen Fragmente der Welt das Atelier erfüllen. Und das Atelier wird auch zu einem Ort, an den diese Dinge neu arrangiert und verbunden werden, bevor sie in die Welt zurückgeschickt werden – entweder als Zeichnung oder als Film, als Geschichte, Performance oder Vortrag.“

Um es auf die Kunsttherapie zu beziehen: Es ist naiv anzunehmen, man könne Dinge wie eine Kaffeetasse, ein Nashorn, ein Hotel, eine Landschaft, eine Fledermaus, eine Farbe, einen Hut oder eine Straßenlaterne so in kunsttherapeutische Ateliers schicken, als seien sie etwas objektiv Gegebenes und als würde an ihnen nicht die subjektive Wahrnehmung haften, durch die sie erst zu unserer Wirklichkeit werden. Egal, ob wir etwas malen, das etwas darstellt, was wir schon einmal gesehen haben oder ob wir eine bestimmte Farbe wie z.B. die Farbe Rot wählen, um sie zum Ausgangspunkt unserer künstlerischen Erkundungen zu machen: Wir holen nicht nur diese Dinge in unser Atelier, sondern auch unsere Sicht auf die Welt, aber auch unsere Blindheit und unser Unvermögen. Erst wenn wir die Dinge, die wir ins Atelier holen und die so selbstverständlich in unsere Lebenswelt eingebettet zu sein scheinen, mit ästhetischen Medien wie eine Zeichnung reflektieren oder in neue Zusammenhänge bringen, sind wir gezwungen unsere eigene Wahrnehmung wahrzunehmen: Wir arbeiten an den Bedingungen ihres Erscheinens, durch die sie erst zu unserer Wirklichkeit werden. Oder um es mit den Worten des amerikanischen Künstlers James Turrell zu sagen: „I want you to sense yourself sensing. To see yourself seeing. To be aware of how you are forming the reality you see.” (Trachtman 2003)

Wenn Sie sich nun nach diesem Vortrag fragen, wie es ist eine Farbe, eine Fledermaus, ein Tisch, ein Hut oder eine Straßenlaterne zu sein, so wundern sie sich nicht: Sie tun es wahrscheinlich sowieso unentwegt, ohne sich dessen bewusst zu sein – und sei es auch nur, dass Sie einen abgestorbenen Baum oder die Frontpartie eines Autos sehen und darin menschliche Eigenschaften widergespiegelt finden. Sie sehen die Welt mit Ihren Augen. Sie formen die Realität durch Ihre Wahrnehmung. In einer sozialen Gemeinschaft gäbe es unendlich viele subjektiv bestimmte Wirklichkeiten, wären wir nicht in der Lage, auf unsere Wahrnehmung zu reflektieren und auf irgendeine Weise unseren Blick auf die Welt mit anderen zu teilen. Ob und wie uns das gelingt, können wir mit künstlerischen Mitteln untersuchen, indem wir uns unsere Geschichten erzählen, Erfahrungen und Dinge in Zeichnungen oder Bilder überführen, eine Performance daraus machen und damit unsere Einstellungen und Weltsichten uns und anderen medial zugänglich machen. Genau genommen ist das – wenn es in einem therapeutischen Kontext passiert – nichts anderes als Kunsttherapie.

 

Literatur

Jackson, Frank (1982): Epiphenomenal Qualia. In: Philosophical Quarterly 32, 1982, S. 127-136

Jackson, Frank (2006): Mind and Illusion. German translation: Bewußtsein und Illusion. (together with H.D. Heckmann). In: H.-D. Heckmann & S. Walter (Hrsg.), Qualia – Ausgewählte Beiträge. Paderborn: mentis, 2. 2. revised and expanded edition 2006, 327-353

Kentridge, William (2018): In Verteidigung der weniger guten Idee. Sigmund Freud Vorlesung 2017. Hg. von Sigmund Freud Museum Wien. Turin + Kant: Wien.

Nagel, Thomas (1981): Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? In: Analytische Philosophie des Geistes. Königstein

Pamuk, Orhan (2006): Rot ist mein Name. Frankfurt am Main: Fischer.
Sänger, Johanna; Müller, Viktor; Lindenberger, Ulman (2012): Intra- and interbrain synchroniza- tion and network properties when playing guitar in duets. Frontiers in Human Neuroscience, 2012, doi: 10.3389/fnhum.2012.00312

Trachtman, Paul (2003): James Turrell’s Light Fantastic, in: Smithsonian Magazine, Mai 2003, http://www.smithsonianmag.com/arts-culture/light- fantastic.html, 10. August 2010.

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