Alles voller Sprache
Schreiben als Versuchsanordnung
In: Kerstin Hof (Hrsg.) (2020): Dreierlei Mut. Hamburg, Potsdam, Berlin: HPB University Press.
1. VERSUCH
Alles voller Sprache: auf Anzeigetafeln, in sozialen Netzwerken, in Briefen und E-Mails, in Zeitungen und Illustrierten, in Nachrichten und Eilmeldungen, in Konferenzen oder Meetings, in meinem Kopf oder auf der Speisekarte. Sprache ist allgegenwärtig. Ich informiere, ich plane, ich reflektiere, ich strukturiere und ordne, ich erfinde und erzähle, ich erinnere und identifiziere, ich definiere und bewerte, ich konstatiere und zweifele, ich liebe und hasse, ich nehme teil und weise zurück. Ich kann nicht ohne Sprache sein. Und doch bleibt Sprache allzu oft nur ein Versuch, mich in mein Sein zu stellen. Die Sprache muss es aushalten zwischen der Verfügbarkeit von Dingen und Sachen und der Unverfügbarkeit des Seins.
Um Entfernungen zu überbrücken nutze ich sprachliche und parasprachliche Mittel. Ich versuche mein Getrenntsein von der Welt zu überwinden. Ich beziehe mich sprachlich auf jemanden oder etwas: „Sieh da, die Rose!“ Sprechend ergreife ich die Dinge, die in meine Wahrnehmung dringen, und gebe ihnen Namen.
Ich bezeichne sie, ich urteile, ich schätze sie ein, ich stelle Bezüge zwischen Sachen her, ich suche Zusammenhänge zu bilden oder löse Zusammenhänge auf. Ich schreibe und spreche.
Und dann spricht mich jemand an. Da ist jemand, der mich meint. Dabei geht es nicht um den Informationsgehalt der Sprache. Ich werde „angerufen“: „Grüß Gott“ oder „Adieu“. Ich werde bei meinem Namen genannt oder mit einem Namen verspottet. Ich werde getroffen in meinem leiblichen Sein: was ich höre, nehme ich mit allen Sinnen wahr. Ich werde berührt, zu- rückgestoßen oder gar verletzt – obgleich kein Blut fließt, kein Bild erscheint, kein Ton er- klingt, sich keine sichtbare Bewegung vollzieht. Nur Buchstaben auf einem Blatt Papier, eine beiläufige Bemerkung, ein Kommentar im Netz: Ich höre einen Gruß, ich lese ein Gedicht, mich trifft ein hingeworfener Satz, mich bedroht ein Pamphlet oder eine Verleumdung. Und schon ist es vorbei mit meiner Sprachgewalt. Ich besitze die Sprache nicht. Die Sprache hat mich.
2. VERSUCH
Eine abweisende Haltung, ein Staccato in der Stimmführung, ein sich mir Aufdrängen oder ein vor mir Zurückweichen, eine Geste, die mich nicht meint, ein Gegenüber, das sich mir versagt – das sind Attribute eines Sprechens, das mich auf Abstand hält oder mich in eine Abwehrhaltung versetzt.
Ich suche nach einer Antwort. Mir fehlen die Worte. Es gibt für sie keinen Ersatz. Mir helfen keine Bilder, kein Tanz, keine Musik. Ich ringe nach den Worten, über die ich nicht verfüge. Ich versuche meine Redequalität wieder zu er- langen. In Situationen der Sprachlosigkeit merke ich, wie sehr ich der Sprache bedarf.
Hass. Die Rede trifft mich brutal, unverblümt, direkt, gewaltsam, unnachgiebig. Die Hassrede ist unbedingt ehrlich und brandmarkt ihr Gegenüber als falsch oder verlogen. Sie unterscheidet apodiktisch zwischen richtig und falsch, zwischen Wir und Ihr, zwischen gut und
schlecht. Der so redet, lässt mir keine Wahl. Er ist Opfer und Täter zugleich. Seine Rede agiert aus der Position der Schwäche oder der Missachtung. Sie verdankt sich einem Gefühl des Sich-Bedroht-Fühlens, des Sich-Ungerecht-Behandelt-Fühlens, des Um-Etwas-Betrogen-Worden-Seins. Sie meint mich und alle anderen, die sich nicht zu ihr bekennen. Wenn sie vorüber ist, stellt sich bei mir kein Frieden ein, egal ob sie mich oder andere meint. Zurück bleibt Hilflosigkeit und das andauernde Gefühl, im Unrecht zu sein.
Die Quelle der Hassrede ist der vergiftete Brunnen, aus dem wir alle getrunken haben. Sie ist eine Behauptung, die ausschließlich und hermetisch ist. Sie ist die Flamme, wo kein Feuer ist. Sie ist eine Anklage, wo kein Recht gesprochen wird.
Sie dringt tief in mich ein und verschließt meine Kehle. Sie ist das Fremde in mir (Kristeva 1990) und ein Tropfen auf dem heißen Stein. Sie ist das Vergebliche, das keine Vergebung kennt. Sie erstickt meine Worte, bevor sie das Licht erblickt haben. Ich bin um meine Sprache gebracht. Mir blüht keine Rose und es vergeht kein Schmetterling.
Wenn Hass zu mir spricht, stoße ich an eine Grenze, die unüberwindbar scheint. Aber ich habe keine Wahl: Ich muss es in dem Raum zwischen hier und dort aushalten. Und dieser Raum ist aus Sprache, die ihre Redequalität verloren hat. „Hinter dem Vorhang der Sprachen“ (Serres 1998) versuche ich das Gefühl für ihre Sinnlichkeit, ihre Geschmeidigkeit oder Schärfe, ihren Klang, ihren Rhythmus, ihre Bewegung oder ihre Bildlichkeit wiederzugewinnen. Ich höre, wo ein Schweigen ist.
3.VERSUCH
Ich mag keine Schnittblumen. Sie stehen da und ich wohne ihrem Zerfall bei. Das Vergehen ist ein Motiv in der Literatur- und Kunstgeschichte, mit dem die dekorativen Schnittblumen vom Wochenmarkt nicht ohne Weiteres Schritt halten können. Das Gedicht „Sommerbild“ von Christian Friedrich Hebbel (1958) macht mir das Verblühen sprachlich anders zugänglich, als die verwelkende Blume in der Vase:
Ich sah des Sommers letzte Rose stehn,
Sie war, als ob sie bluten könne, rot;
Da sprach ich schaudernd im Vorübergehn:
So weit im Leben, ist zu nah am Tod!
Es regte sich kein Hauch am heißen Tag,
Nur leise strich ein weißer Schmetterling;
Doch, ob auch kaum die Luft sein Flügelschlag
Bewegte, sie empfand es und verging.
Der Unterschied zwischen der vergehenden Schnittblume und der vergehenden Rose in Hebbels Gedicht ist augenscheinlich: Der vergehenden Schnittblume fehlt die Poesie, etwas, was über die triviale Tatsache hinausweist, dass da eine Blume verblüht, etwas, das dem Vergehen einen Sinn gibt, bei dem es zu Verweilen lohnt.
Nun sind solche Gedanken nicht nur eine Reminiszenz an die Romantik, sondern sie führen vor Augen, wie die Welt erst jenseits des Faktischen zu uns sprechen vermag. Wie kann es uns gelingen Räume zu öffnen, in denen uns über das Faktische hinaus das Mögliche, das Ferne oder auch das Nicht-Sagbare zugänglich werden? Gibt es eine Sprache, die das Phänomen des Vergehens nicht weniger im Blick hat, wie das, was sich darüber als Tatsache sagen lässt?
Nicht selten wird der Sprache die Rolle zu- gewiesen, sich in erster Linie mit Fakten zu beschäftigen, die sie repräsentiert oder auf die sie verweist. Sie strukturiert unser Denken und Handeln, indem es sie an Tatsachen und eine ihnen vordergründig eingeschriebene lineare Logik von Ursache und Wirkung bindet. Die chronologische Zeit bildet den Hintergrund für die Fakten, bei denen eins auf das andere folgt: Die Rose wächst, blüht und vergeht. Dem Werden folgt das Sein, dem Sein folgt das Vergehen. Dem Subjekt folgt das Prädikat und dem Prädikat folgt das Objekt.
Unser ganzes Leben scheint sich in einer notwendigen Abfolge von immer wiederkehrenden Ereignissen zu erschöpfen. Wir wachen auf aus unserem Schlaf, wir beginnen unseren Arbeitstag, wir begeben uns in den Feierabend und schließlich in die Nachtruhe, bis wir wieder aufwachen. Das Alter macht irgendwann eine Zäsur in diesem immer währenden Kreislauf. Wir erreichen den „Lebensabend“, für den wir versichert sind, etwas zurückgelegt haben oder wir geraten in die (unverschuldete) Armut, das Pflegeheim oder die Einsamkeit. Die Zeit geht weiter. Unerbittlich geht sie dem Ende entgegen. Eins folgt auf das Andere, kein Zurückgeworfen werden in der Zeit, kein Verweilen und auch kein zweiter Versuch. Nichts lässt sich erneut auf Anfang drehen. Das Leben ist kein Spiel. Das Vergehen ist ein Naturgesetz.
Mit diesem Denken sind die Naturwissenschaften spätestens seit der Moderne ungemein erfolgreich. Die Architektur unseres Daseins folgt ihrem Diktum: Wir haben die Orte geschaffen, in denen das Werden, das Sein und das Vergehen verwaltet werden. Wir haben die Schulen, die auf das Leben vorbereiten, wir haben die Arbeitsstätten und die privaten oder öffentlichen Rückzugsorte, in denen sich das Leben vollziehen kann, wir haben die Alters- und Pflegeheime und schließlich die Friedhöfe, um unserer Zeit danach einen Ort zu geben.
Aber: Die Sprache erschöpft sich nicht in einer chronologischen und folgerichtigen Aneinanderreihung von Begriffen, die die tatsächliche Welt beschreiben, unabhängig davon, wie wir sie wahrnehmen. Sie folgt nicht nur einer linearen, ihr eingeschriebenen Logik und Begrifflichkeit. Sie bietet noch ganz andere Optionen, wenn sie ihre poetische Kraft entfaltet. „Durch Lautlichkeit“, so schreibt die Schriftstellerin Ulrike Draesner (2011), „wird Leiblichkeit sinnlich zu Gehör gebracht… Sowohl Stimme als auch Ohr sind Wege…“ Und sie berichtet von Erfahrungen, die sie bei ihren Autorenlesungen gemacht hat, folgendes: die „Stimme ist, so viel habe ich erfahren, vor allem auch ein Organ der Antwort. Ich entdeckte, dass das Publikum mir Bilder zurückwirft, Bilder, die ich nicht sehe, aber körperlich “begreife” oder sie ergreifen mich, und meine Stimme re- agiert darauf, an einem Ort, der sich meiner willentlichen Steuerung entzieht. Denn die Stimme ist etwas, womit man ohne Augen sehen kann.“ Die Sprache als ein Organ der Wahrnehmung: Ich spreche zu Jemandem und bekomme im gleichen Atemzug etwas zurück. Sprache ist ein Gegenstand leiblicher Erfahrungen.
4. VERSUCH
Ich lese ein Buch und in ihm die Schrift. Ich lese vom wirklichen Leben. Ich wüsste nichts darüber, hätte ich nicht die Sprache und die Sprache mich.
Ich lese von Tyll Uhlenspiegel. Ich begegne ihm in einem Roman (Kehlmann 2017). Tyll Uhlenspiegel lebt in diesem Roman in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in einer rohen, mir fremden und fernen Welt. Er lebt in einer Welt, die der Leser sich nur erschließen kann, wenn er sich lesend in sie hineinbegibt. Ich sehe mich um, erlebe durch die Figuren der Geschichte die Unerbittlichkeit der Natur oder des Krieges, ohne sie selbst beschrieben zu finden.
Gegen Ende der Erzählung öffnet sich der Boden und ich werde samt einer Gruppe von Menschen plötzlich in die Tiefe eines Schachts gerissen, der sich nach Dunkelheit, Erde, Schweiß, Blut und Enge anfühlt, fast so, als sei ich selber lebendig begraben. Davon aber wird nicht erzählt, es fühlt sich so an. Ich fühle es durch die derben Satzfetzen und Dialoge, die die einzige Orientierung im Dunkel bilden. Ich bin von einer undurchdringlichen Dunkelheit umgeben, aus der es kein Entkommen gibt. Ich identifiziere nur langsam unter den handelnden Personen Tyll Uhlenspiegel, der selber einen Halt in der Dunkelheit zu finden sucht. Ich vernehme die verzweifelten Zurufe,
das Stammeln, den Schweiß, das Ringen nach Luft, das körperliche Eingeschlossensein. Fast ist es so, als habe die Sprache Gewalt über mein leibliches Dasein. Nicht die gedruckten Sätze bestimmen das Bild, das ich gewinne. Ich höre, sehe, spüre, was ich lese. Was ich lese, spricht und mit ihm eine ganze Fülle sinnlicher Empfindungen, aus denen sich ein Bild zusammenfügt, das sprachlich gar nicht in Erscheinung tritt.
Offenbar ist es möglich etwas zu erzählen, indem die Begriffe ihre eigentliche Bedeutung verlieren: „…die Stimme ist etwas, womit man ohne Augen sehen kann.“ (Draesner 2011) Auf diesem Phänomen beruhen nicht nur gute Erzählungen und Romane, sondern auch die Reden von Agitatoren, Verleumdern oder Hassrednern. Was kann ich ihrer Rede entgegen- stellen?
Anders als es uns Lexika, Datenbanken oder Klassifikationssysteme glauben machen wollen, scheint sich Sprache nicht in erster Linie in Fakten zu erschöpfen, auf die sie weist oder die sie repräsentiert. Die Welt wird uns nicht dadurch verfügbar, dass wir sie mit Begriffen erschließen können. Ich bin leiblich mit der Welt und ihren Erzählungen verbunden. Wir brauchen ein Gespür, ein Bewusstsein und eine Kompetenz für die Redequalität der Sprache. Das wird gelegentlich übersehen, wenn von unserem Verhältnis zur Sprache die Rede ist.
5. VERSUCH
Im Reigen der Künste wird der Sprache immer wieder eine besondere, manchmal unterge- ordnete, Rolle zugewiesen:„Wenn ich mit Worten sagen könnte, was meine Tänze meinen, gäbe es keinen Grund, sie zu tanzen.“ (Mary Wigman 1983 in Maderna 2008, 277) oder „Ich singe, was ich nicht sagen kann“ (Rosemarie Tüpker, 1988) oder „Wenn Worte fehlen, sprechen Bilder“ (Gertraud Schottenloher, 1994). Um die Sprache scheint es schlecht bestellt zu sein: Wenn Worte versagen, dann singen wir, malen Bilder oder tanzen? Ist das wirklich so? Es ist nicht leicht sich der Sprache zu verweigern. Wir denken in ihr, wir nehmen durch sie und mit ihr Kontakt zu Sachen, Dingen oder anderen Menschen auf und selbst wenn wir schweigen, ist sie da: Als Sprachlosigkeit, als Barriere, als Hindernis, als Distanz oder Dissonanz. Stimmt es denn, dass sich die nicht-sprachlichen Künste, das Malen, Tanzen oder Singen als Alternative zum Sprechen anbieten?
Nicht nur da, wo die Künste für pädagogische oder therapeutische Zielsetzungen genutzt werden, selbst nach dem Besuch eines Kinos, eines Konzertes, des Tanztheaters oder des Museums sprechen wir darüber, versuchen zu verstehen und uns in ein Verhältnis zu dem zu bringen, was wir erfahren haben (Bertram 2014). Wenn wir tanzen, singen oder malen sprechen wir danach über das, was wir gemacht haben, um von anderen zu erfahren, wie sie etwas gehört, gesehen oder empfunden haben. Wir erörtern, wie es auch hätte sein können, welche Möglichkeiten es noch gibt oder wie wir es besser oder anders machen können. Die Sprache scheint ein nicht unwesentliches Instrument zu sein, damit wir ästhetische Erfahrungen in unser Leben integrieren.
Wir stoßen dabei ständig auf die Grenzen der sprachlichen Kommunikation und er- weitern sie um parasprachliche Mittel: Wir gestikulieren, wir heben oder senken die Stimme, verlangsamen oder beschleunigen die Rede, wir versuchen etwas zu umschreiben oder greifen nach Metaphern. Wenn wir sprechen, bewegen wir uns immer schon an der Grenze zu anderen Medien. Was wir zu Gehör bringen, vermittelt sich intermedial: Wir hören etwas, ohne dass ein Ton erklingt und ohne dass von Musik die Rede ist, wir nehmen Bilder wahr, die sich an Erzählungen entzünden, ohne dass sie in Metaphern ihren Ausdruck gefunden haben müssen, wir tauchen ein in Atmosphären, die zwischen den Zeilen vernehmbar werden, wir erleben die Dramaturgie der Rede, wir erleben die Sprache als Geste, die uns berührt, ohne dass sich eine sichtbare Bewegung vollzogen haben muss. Ich schlage vor, die Sprache und andere künstlerische Medien, durch die wir uns auf die Welt beziehen können, nicht als Alternativen oder gar Gegensätze zu denken. Die künstlerischen Disziplinen operieren mit verschiedenen sinnlichen Modalitäten, die sich uns leiblich vermitteln. In der Sprache sind sie aufeinander bezogen: Wenn wir sprechen, vollziehen wir eine Dynamik oder Bewegung, erzeugen Bilder und Atmosphären oder realisieren musikalische und rhythmische Figuren. Unsere Wahrnehmung ist bereits intermedial angelegt, ohne dass wir reflexiv Bezüge zwischen den Medien herstellen müssten. Sprechen ist als integrale Simultanität der Sinne zu verstehen, über die verschiedene Medien latent aufeinander bezogen sind.
6. VERSUCH
Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose.“ (Stein 1968) Wie in einem Spiegelkabinett reflektiert in diesem Satz die Rose die Rose die Rose die Rose. Der Begriff wirft das zurück, auf das er zeigt. Das ist anders, wenn ich auf eine Blume zeige und sage: „Das ist eine Rose“. Der Begriff „Rose“ spiegelt nicht die tat- sächliche Rose, er ist ihr Platzhalter. Er ist nicht ihr Spiegelbild.
Sprache hat immer eine Zeigequalität. Wir meinen etwas oder jemanden oder wir zeigen, was oder wen wir meinen. Durch Sprache be- ziehen wir uns auf die Welt. Wir heben hervor, wir betonen, wir begreifen, wir verstehen, wir unterschlagen, wir untersuchen. Sprachlich bewegen wir uns in der Welt, indem wir uns zu Dingen und Sachen zeigend, hebend, greifend, stehend, schlagend oder suchend in eine Beziehung bringen. Sprechend setzen wir uns leiblich zu Anderem in ein Verhältnis. Wenn ich auf eine Blume zeige und sage: „Das ist eine Rose“, geht das mit einer Fülle von sinnlichen Empfindungen einher, durch die ich mich leiblich mit der Welt verbunden fühle. Wenn ich sage: „Das ist eine Tulpe und keine Rose“, weiß ich von der Rose, weil ich mir die sinnlichen Eindrücke vergegenwärtige, die mich in ein leibliches Verhältnis zur Rose führen. Sprechen ist keine Einbahnstraße. Was ich benenne, wirft mir etwas zurück: „Die Welt kommt auf das erfahrende Subjekt zu – und dieses geht (handelnd und erschließend) in die Welt hinein.“ (Rosa 2016, 211)
Sprechen ist nicht Übersetzen. Es ist nicht das Überführen von etwas Nicht-Begrifflichen in einen Begriff. Worte sind nicht Etiketten, die an Sachen, Dingen, Situationen oder Menschen haften, wie Preisschilder an der Ware im Supermarkt. Wer das Wort auf den Begriff reduziert, macht die Sprache zum bloßen Stellvertreter, zum Symbol oder Zeichen und beraubt sie ihrer poetischen Kraft.
Eine Sprache, die sich dem Dialogischen versagt, hat keine Redequalität. Sie ist bloße Chiffre. Natürlich gibt es eine Sprache, die den Zweck hat, etwas zu bezeichnen, zu ordnen, zu definieren, zu informieren, zu zitieren, hin- zuweisen, zurückzuweisen, zu regeln, zu versichern, zu übersetzen, zu verbinden, zu strukturieren, zu warnen. Aber selbst dann, wenn die Sprache nur Information sein will, zeigt sie sich oder etwas. In der Art und Weise wie sie das tut, spüre ich ihre Ecken und Kanten, ihre Rundungen, ihren Rhythmus, ihre Leichtigkeit oder ihr Drängen, ihren Duktus, ihren Klang und ihre Temperatur, ihre Durchlässigkeit und ihren Widerstand. Ich bewege mich im Raum der Sprache und nicht nur in den ihr mitgegebenen Bedeutungen. Hören und Sprechen sind vor allem eine Kompetenz der Sinne.
7. VERSUCH
Das Schweigen. Ich schweige nicht, weil ich fertig bin oder weil ich nichts zu sagen habe. Ich schweige, weil sich die Sprache nicht nur im Modus des Hörens und Sprechens vollzieht. Selbst wenn ich verstumme, erlischt nicht die Rede. Weil die Sprache ein sinnliches Vermögen ist, ist ihr Medium nicht nur das gesprochene
oder geschriebene Wort. Wer meint, dass sich alles sprechend vermitteln lässt, „übersieht, daß kaum merkliche Gesten gleichfalls lehren können, er vergißt das stillschweigende Einverständnis und die Komplizenschaft, er vergißt, was sich von selbst versteht, ganz ohne Worte, das stille Bitten um Liebe, die Eingebung, die einschlägt wie ein Blitz, die Anmut einer Bewegung […]“. (Serres 1998, 137)
Wer Musik macht, spricht nicht. Wer tanzt, braucht keine Worte. Bilder schweigen. Sie brauchen nicht die Rede, um erschlossen zu werden. Wir sprechen über Bilder um unsere Erfahrungen zu teilen, nicht aber um sie zu enthüllen. Die Sprache hingegen kann sich im Modus des Bildhaften, der Musik und der Bewegung erst entfalten: „Ist das Bild immer visuell? Es kann auch klanglich, das Guckloch kann auch sprachlicher Art sein: Ich kann mich in einen Satz verlieben, der mir gesagt wurde: und nicht nur deshalb, weil er mir etwas sagt, was meine Begierde betrifft, sondern aufgrund seiner syntaktischen Wendung (seines „Hofes“), die in mir heimisch werden wird wie eine Erinnerung.“ (Barthes 1988, 133)
Das Dialogische hat in der Sprache seinen Ursprung und sein zu Hause. Es hat mit leiblichen Erfahrungen zu tun, die wir mit und an ihr machen – selbst da, wo wir schweigen. Ich brauche die Sprache und sie braucht mich. Sprache ist ein Vermögen und braucht ein Gegenüber, an dem sie sich entzünden oder auf das sie sich beziehen kann. Das Vermögen ist vor allem ein Leibliches, das Gegenüber ist ein Du.
Literatur:
Barthes, Roland: (1977): Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Bausch, Pina: Bausch Pina (2002): In Huschka S : Moderner Tanz. Konzepte – Stile – Utopien. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag
Bertram, Georg W. (2014): Kunst als menschliche Praxis – Eine Ästhetik. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Buber, Martin (1997): Das dialogische Prinzip. Heidelberg: Lambert Schneider
Butler, Judith (2016): Haß spricht – Zur Politik des Performativen. Berlin: Suhrkamp
Draesner, Ulrike (2011): Reflexionen zur Stimme. Online unter: http://www.lesungslabor.de/html/modules.php?name=News&file=article&sid=30 (abgerufen am 17.08.2011)
Hebbel, Friedrich (1958): Sommerbild. In: Reiners, Ludwig: Der ewige Brunnen – Ein Volksbuch Deutscher Dichtung. München: Verlag C.H. Beck
Kehlmann, Daniel (2017): Tyll. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag
Kristeva, Julia (1990): Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Maderna, Marianne (2008): Historysteria. Springer: Vienna
Reinshagen, Gerlind (2011): nachts. Berlin: Suhrkamp. 9
Rosa, Hartmut (2016). Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Schottenloher Gertraud; Schnell, Hans (1994): Wenn Worte fehlen, sprechen Bilder – Bildnerisches Gestalten und Therapie. München: Kösel Verlag
Serres, Michel (1998): Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt: Suhrkamp
Sinapius, Peter (2008): Bilder der Sprache – Sprache der Bilder. Über die Evidenz sprachlicher Bilder. In: Ganß, M., Sinapius, P., de Smit, P.: „Ich seh dich so gern sprechen“ – Sprache im Bezugsfeld kunsttherapeutischer Praxis und Forschung. Wissenschaftliche Grundlagen der Kunsttherapie, Band 2. Frankfurt am Main: Verlag Peter Lang
Stein, Gertrude (1968): Geography and Plays. The Four Seas Company, Boston. New York: Something Else Press
Tüpker, Rosemarie (1988): Ich singe, was ich nicht sagen kann. Zu einer morphologischen Grundlegung der Musiktherapie. Regensburg: Bosse
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