Sehen ist nicht etwas, das uns passiert, sondern etwas, das wir tun. Unser Blick kann nicht nur etwas zur Erscheinung bringen, sondern Anderes auch zum Verschwinden. Wer wegsieht, braucht seine Augen nicht zu verschließen. Sein Blick ist es, der zum Schweigen bringt, was jeder sehen kann. Wie ist das möglich?
Malte Helwig hat im Spiegel einen Beitrag verfasst über das Konzentrationslager Auschwitz, von dem selbst die Tochter des Lagerkommandanten Rudolf Höß lange nichts gewusst haben wollte. Anlass für den Beitrag ist der aktuelle Film „The Zone of Interest“, in dem der britische Regisseur Glazer das Leben der Familie Höß rekonstruiert.
Malte Helwig hat mit der Tochter gesprochen:
„[…]
Sie habe damals auf den Rauch des Krematoriums nicht geachtet, sagte mir Ingebrigitt Höß und zeigte in den Himmel von Arlington: »Wenn da Wolken sind, sind Wolken.« Von den Grausamkeiten hinter der Gartenmauer habe sie nichts mitbekommen und ihren Vater nie danach gefragt. »Mit neun oder zehn Jahren hat man andere Gedanken.«
[…]
Es gibt eine Szene in Glazers Film, die wie ein Sinnbild wirkt für den Umgang vieler Deutscher mit Auschwitz nach 1945. Da baden Rudolf Höß und die Kinder im Fluss, der direkt neben dem Konzentrationslager fließt. Plötzlich bemerkt der Kommandant Asche auf dem Wasser schwimmen. Er treibt die Kinder panisch aus dem Fluss. Zu Hause werden sie in der Badewanne abgeschrubbt und getröstet: »Wir spülen die Augen aus. Alles ist gut. Du lebst noch.« Dann wird frische Bettwäsche aufgezogen. Gibt es ein besseres Bild für die schizophrene, persilweiße Unschuld der meisten Familien im Nachkriegsdeutschland?
[…]
Ingebrigitt Höß starb vergangenes Jahr im Alter von 90 Jahren in Arlington. Sie war ein Kind und hatte keine Schuld an dem, was in Auschwitz geschah. Aber auch von ihr habe ich etwas gelernt: Das Auge ist ein blinder Fleck. Wir schauen weg, und am Ende kommen Touristen.“
Es ist für ein Kind nicht schwer, in dem Rauch aus dem Schornstein eines Konzentrationslagers Wolken zu sehen. Was es wahrnimmt, folgt seinem Blick. Der Blick ist es, der das, was es sieht, mit Bedeutungen ausstattet und in die Zusammenhänge stellt, die ihm zur Verfügung stehen.
Das machen nicht nur Kinder so. Und das nutzen Populisten um unseren Blick zu immunisieren. Da hilft manchmal schon eine kleine Verschiebung der Perspektive, indem AfD-Politiker den »irren Schuldkult aus Deutschland verbannen« wollen und Björn Höcke Wortspiele über das »Ausschwitzen« von Gegnern macht.
Wer für den Bezugsrahmen seiner Wahrnehmung blind ist, dem geht es nicht anders als den Gefangenen in dem Höhlengleichnis Platons, die die Schatten an der Wand für die Wirklichkeit halten. Wer dagegen hinsieht und das, was er sieht, nicht zum Schweigen bringt, ist vielleicht in der Lage etwas über die Welt und auch über den Holocaust zu erfahren.
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