Peter Sinapius

Der Durchschnitt und der Einzelfall: Kunsttherapeutische Dokumentation zwischen Statistik und Poesie

„Heute geht es darum, dass wir unsere Sinne wiedererlangen. Wir müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören und mehr zu fühlen. Es ist nicht unsere Aufgabe, ein Höchstmaß an Inhalt in einem Kunstwerk zu entdecken. Noch weniger ist es unsere Aufgabe, mehr Inhalt aus dem Werk herauszupressen, als darin enthalten ist. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, den Inhalt zurückzuschneiden, damit die Sache selbst zum Vorschein kommt.“ (Sontag 1982)

Das Dokument

Mit einem Dokument halte ich etwas fest, was sonst unwiderruflich verloren wäre. Es gilt als Urkunde oder Beweis für einen Sachverhalt, für den es Zeugnis ablegt. Für ein solches Dokument müssen Regeln gelten, die ihm die entsprechende Überzeugungskraft verleihen.

Ein Dokument kann ein Insignum der Macht sein und Kraft eines Amtes einen Umstand mit Brief und Siegel für gültig und rechtens erklären. Es kann ein Fundstück sein, das wir in einen gegebenen Kontext einordnen können. Ein Dokument kann ein Bericht sein, sofern er nachvollziehbar ist, d.h. an unsere Erfahrungen anschließt und die Informationen enthält, die ihn in einen gegebenen Zusammenhang bringen. Es kann aber auch Daten enthalten, die sich auswerten lassen. Sofern vergleichbare Dokumente und genügend Daten vorliegen, kann daraus eine statistische Darstellung folgen. Und schließlich kann das Dokument als Dokument durch sich selbst beweiskräftig sein, wenn das, was es behauptet, das ist, was wir darin erkennen: Ein Gedicht, ein Bild oder eine improvisierte Handlung, die dokumentiert sind, treten für nichts den Beweis an außer selber ein Stück sinnlich erfahrbare Wirklichkeit zu sein. Sie liegen also im subjektiven Erleben eines jeden Einzelnen. Einer Erzählung und einer Geschichte kann – wie bei jedem Kunstwerk – eine erkenntnisstiftende Kraft innewohnen, die über das Besondere auf etwas Allgemeines verweist. Sie tut das in der Sprache der Kunst.

Die Spannbreite der Dokumentationsformen reicht folglich von der Statistik, die Objektivität beansprucht, über den Bericht, der nachvollziehbar ist bis zu künstlerischen und ästhetischen Formen des Dokumentierens. Die eine Dokumentation sucht nach ihren eigenen Grundsätzen subjektive Einflüsse weitgehend auszuschalten, die andere ist auf das subjektive Erleben angewiesen und gewinnt durch sich selbst und die Form ihrer Darstellung Evidenz.

Zwischen Statistik und Poesie

Wer sich forschend mit der Praxis der Kunsttherapie befasst, ist zu allererst auf Dokumente aus der kunsttherapeutischen Praxis angewiesen, auf die er sich be- ziehen kann. Das sind zunächst die Werke der Patienten, die sich aber ohne den Zusammenhang, in dem sie entstanden sind, nicht erschließen. Der Zusammenhang mit dem individuellen Krankheitsgeschehen, den konstitutionellen, biografischen und psychosozialen Bedingungen, den Rahmenbedingungen und dem spezifischen Setting, erschließt sich aus den Berichten oder Protokollen des Kunsttherapeuten, sofern sie bestimmte Kriterien erfüllen, die sie wissenschaftlich verwertbar machen.

Dazu gehört in erster Linie, dass sie sich in einen vorgegebenen Kontext ein- ordnen lassen: Sie müssen den spezifischen Bedingungen kunsttherapeutische Praxis gerecht werden, die sich über Bilder, die mit den ästhetischen Gestaltungen und Handlungen zwischen Therapeut und Patient verbunden sind, artikuliert.

Eine Dokumentation kann ganz unterschiedliche Ziele verfolgen: Sie kann der Selbstreflektion dienen und im Zusammenhang mit einer Supervision oder der kunsttherapeutischen Selbsterfahrung im Rahmen der Ausbildung stehen. Sie kann als Mitteilung an den behandelnden oder nachbehandelnden Arzt gedacht sein oder für die nachfolgende Forschung, in deren Rahmen Dokumente gesammelt und ausgewertet werden5. Mit jeder dieser Möglichkeiten können ganz unterschiedliche Fragestellungen einhergehen. Nicht zuletzt muss die Doku- mentation von dem, an den sie gerichtet ist, verstanden werden können: Sie muss nachvollziehbar sein.

Die Form, Methode oder Systematik, der eine Dokumentation folgt, hängt also von unterschiedlichen Bedingungen ab: Sie muss sich im Einklang mit den Be- dingungen kunsttherapeutischer Praxis befinden, sie muss der Fragestellung angemessen sein und je nach Adressat innerhalb der eigenen Disziplin oder auch interdisziplinär vermittelbar sein: Es geht um die Kongruenz zwischen Forschungsgegenstand, Fragestellung, Ziel und Methode.

Herrscht zwischen diesen Faktoren keine Kongruenz, ist eine kunsttherapeutische Dokumentation für wissenschaftliche Zwecke unbrauchbar. Es ist beispielsweise unsinnig, statistische Untersuchungsmethoden, die im Zusammenhang medizinischer Wirksamkeitsforschung einen Sinn machen, auf den Bereich künstlerischer oder ästhetischer Fragestellungen anwenden zu wollen. Jemand, der die kunsttherapeutische Praxis begründen will, hat nicht nur eine andere Fragestellung, sondern auch ein anderes Ziel als jemand, dem es um die Integration der Kunsttherapie in das Fallpauschalensystem im Zusammenhang mit den Leitlinien für die Standards klinischer Versorgung geht (Kunzmann et al. 2005). Dokumentationen, die im Zusammenhang mit der Evaluierung therapeutischer Verfahren im Rahmen der Gesundheitsversorgung stehen, folgen vorgegebenen Erfassungskriterien und einer Forschungssprache aus einem bestimmten Bereich der medizinischen Forschung, der als „Goldstandard“ für alle therapeutischen Verfahren festgelegt ist. Ausgangspunkt für eine kunsttherapeutische Dokumentation ist die kunsttherapeutische Praxis, die künstlerischen und ästhetischen Kriterien folgt, für die es keinen Standard gibt. Wir haben es in der Kunsttherapie mit Bildern und ihren vorikonographischen Bedeutungen zu tun, die unter den subjektiven Bedingungen der therapeutischen Beziehung entstehen: Der Therapeut ist als Subjekt ebenso an ihrer Entstehung beteiligt wie der Patient. Dabei ist unter Bild mehr als das zu verstehen, was sich in einer Gestalt, im Gemälde oder der Plastik manifestiert. Das Bild, um das es in der Kunsttherapie geht, ist erst vollständig im Kontext der therapeutischen Beziehung. Damit aber ist der Kunsttherapeut, der dokumentiert, Beteiligter an dem Geschehen, von dem er spricht. Folglich schließt eine Dokumentation aus der kunsttherapeutischen Praxis in der Regel die subjektiven Erfahrungen des Kunsttherapeuten ein (Sinapius 2005, 163 ff).

Ohne eine Reflexion auf diese Bedingungen kunsttherapeutischer Praxis und die Bedingungen des speziellen Forschungskontextes wird eine kunsttherapeutische Dokumentation, bei der der Kunsttherapeut sowohl als Beteiligter als auch als „Forscher“ eine Rolle spielt, weder kontrollierbar noch nachvollziehbar.

Eine kunsttherapeutische Dokumentation, die ihren Blick auf die kunsttherapeu- tische Praxis richtet, erfordert zunächst ein hohes Maß an Selbstreflexivität und kontrollierter Subjektivität (Tüpker 2002): Der eigene Standpunkt, die eigenen Erfahrungen, der eigene künstlerische und weltanschauliche Hintergrund sind wesentliche Teile einer kunsttherapeutischen Dokumentation, weil sich ohne sie nicht das erschließt, was als ästhetische Mitteilung zwischen Therapeut und Patient Bedeutung gewinnt.

Die Dokumentation kunsttherapeutischer Praxis hat also andere Vorraussetzungen als eine Dokumentation vor dem Hintergrund der Paradigmen evidenzbasierter Forschung.

Der Durchschnitt und der Einzelfall

Wenn wir ein Gebilde objektiv beschreiben wollen, können wir es vermessen, es wiegen, seine Temperatur feststellen, seine Materialität bestimmen usw. Wir befassen uns mit dem Gebilde, indem wir Verhältnisse und Beziehungen zwischen diesem Gebilde und anderen Dingen herstellen. Wenn wir feststellen, dasses 50 cm lang ist, ist unser Maßstab, mit dem wir es vergleichen, ein Zollstock. Wenn wir sein Gewicht bestimmen, untersuchen wir seine Wirkung auf ein an- deres Ding: Wir nehmen eine Waage und stellen fest, dass sich die Waage in Bezug auf das Gebilde in einer ganz bestimmten Weise verhält. Bestimmen wir seine Temperatur, untersuchen wir seine Wirkung auf einen Thermometer.

Wir vergleichen, bilden Verhältnisse zu anderen Dingen und ziehen Schlüsse daraus. Was wir daraus schließen, nennen wir objektiv, weil wir vergleichbare Situationen herstellen können.

Kennzeichnend für eine solche Annäherung an die Wirklichkeit ist, dass subjek- tive Faktoren in der Betrachtung weitgehend ausgeschaltet werden. Was wir messen, wiegen und zählen können, lässt sich also, wenn wir einen Maßstab haben, der es vergleichbar macht, in der Regel objektiv beschreiben. Das Maß an Vergleichbarkeit und Reproduzierbarkeit sind in diesem Fall die Parameter für die wissenschaftliche Beweiskraft, die durch subjektive Einflüsse getrübt würden.

Sobald wir sinnliche Qualitäten der Wahrnehmung wie z.B. Schmecken, Rie- chen oder Fühlen in die Untersuchung einführen, um darzustellen, welche Beschaffenheit der entsprechende Gegenstand hat, schreiben wir ihnen dann eine objektive Bedeutung zu, wenn unsere Wahrnehmungen mit denen Anderer übereinstimmen (Interrater-Reliabilität).

In der Kunsttherapie fehlt uns ein Maß, das sie vergleichbar und objektiv be- schreibbar macht. Wir haben es in der Kunsttherapie nicht nur mit sinnlichen Qualitäten der Dinge oder Phänomene zu tun, sondern auch mit ihren psychischen oder psychophysischen Wirkungen auf uns. Dann ist eine Farbe, eine Form, ein Ton nicht nur ein außerhalb von uns liegendes beschreibbares Phäno- men, sondern das Phänomen löst eine Reaktion in uns aus, die wir als Mitteilungsqualität des Phänomens werten: Wir bringen es mit Affekten, die zu Kategorien wie z.B. Zorn, Freude oder Trauer und damit zu dem Bereich der nonverbalen Kommunikation zählen, in Verbindung (Sinapius 2005). Sie ma- chen den vorikonographischen Bereich der Beschreibung eines Kunstwerkes aus, der sich ausdrückt durch die spezifischen Konfigurationen von Farbe, Linie oder Form (Panofsky 1975), durch den eine Farbe oder eine Linie den Charakter einer mitteilenden Geste gewinnen. Ihre Bedeutung gewinnen sie vor dem Hin- tergrund individueller Erfahrungen und Lebenskonzepte, Konventionen oder milieuspezifischen Bedingungen. Nicht zufällig beschäftigen sich daher mehrere Beiträge dieses Bandes mit der Frage der Subjektivität als Faktor kunstthera- peutischer Forschung.

Die Kunsttherapie befindet sich an der Schnittstelle zweier von ihrer Herkunft und ihrem Selbstverständnis her verschiedener Kulturen: Die am Krankheitsbild orientierte medizinische Behandlung und die an ästhetischen Phänomenen der Wahrnehmung und Ausdrucksbildung orientierte kunsttherapeutische Behandlung. An dieser Schnittstelle geht es nicht um die Vorherrschaft einer damit ver- bundenen Forschungsmethodik, sondern um anthropologische Fragen, um das Menschenbild, mit dem medizinisches und therapeutisches Handeln und die ihm zu Grunde liegenden Konzepte einhergehen.

Im Rahmen einer Studie über die besonderen Bedingungen der Kunsttherapie im klinischen Praxisfeld antwortete ein Mediziner auf die Frage: „Was würde Ihnen fehlen, wenn es (an Ihrem Krankenhaus) die Kunsttherapie nicht gäbe?“: „Es würde kalt und ausgedorrt im Krankenhaus werden. Es würde ein ganz wesentlicher Teil dessen, was den Patienten ausmacht…in den Hintergrund treten … ich spüre, dass es auch für uns Ärzte mitunter, wenn wir genügend Zeit haben uns auf diese Kunsttherapien einzulassen, eine unglaubliche Rückernährung ist dadurch, dass auch Menschen im Haus arbeiten, die das eigentlich Gesunde pflegen.“ Eine Ärztin beschrieb auf die gleiche Frage den Musiktherapeuten als denjenigen, der „…das Ästhetische mit rein bringt, den Patienten mal eine Blume vorbei bringt, oder mal einen Kristall ins Fenster hängt, damit sie dann die Farben sehen können, die sich brechen.“

Es werden hier von der befragten Ärztin und dem befragten Arzt zwei wesentliche Aussagen über die Kunsttherapie gemacht:

1. Die Kunsttherapie bringt Wärme in das Krankenhaus und pflegt das eigentlich Gesunde und

2. der Kunsttherapeut bringt das Ästhetische in das Krankenhaus als Handlung, die sich an den Patienten richtet.

Es sind damit zwei Faktoren angesprochen, die zweifellos von Bedeutung sind, wenn wir von der Wirkung der Kunsttherapie sprechen. Sie betreffen nicht nur das, was die Kunsttherapeuten tun, sondern vor allem die Art und Weise, wie sie es tun: Die Blume oder der Kristall, die der Musiktherapeut mitbringt, mögen für sich genommen belanglos erscheinen. Für sich genommen bringen sie noch keine „Wärme“ in den Krankenhausalltag. Ihre Bedeutung gewinnen sie erst durch die Umstände, die mit ihnen verbunden sind, in dem Augenblick, in dem der Patient sie erhält: Das Wahrgenommenwerden und das Zugeneigtsein. Sie machen die Blume und den Kristall zum Inhalt einer ganz individuellen Begegnung.

Eine kunsttherapeutische „Intervention“ bliebe ohne diese Faktoren des Wahr- genommenwerdens und des Zugeneigt-seins wirkungslos. Ohne sie entstünde kein Wärmeraum (Sinapius 2005), der eine Farbe zum Sprechen bringt oder einen Ton zur Mitteilung werden lässt, die der Andere ergreifen, durch die er sich formulieren und äußern kann. Der Kunsttherapeut stellt nicht nur das Material wie Farbe oder Ton zur Verfügung, er schafft vor allem einen individuellen Raum, in dem das künstlerische Werk Teil einer ästhetischen Handlung wird, die sich zwischen Therapeut und Patient vollzieht. Für den Bereich der ästhetischen Bildung hat Helga Kämpf-Jansen, inzwischen auch für die Kunsttherapie- Forschung unüberhörbar, die These formuliert: „Ästhetische Arbeit bedarf eines individuell erfahrenen Sinns“ (Kämpf-Jansen 2002). Indem die Kunsttherapie Raum schafft für imaginative und intuitive Sinngebungen und Lösungsstrate- gien, einen Beziehungsraum, in dem der Patient sinnliche Erfahrungen machen und seine Potentiale (Möglichkeiten) entfalten kann, knüpft sie an fundamentale Bedingungen von Entwicklung und Gesundheit an (Antonovsky 1997).

Wenn wir die kunsttherapeutische Praxis darstellen wollen, stoßen wir so auf Kategorien, die das Feld beschreiben, mit dem wir uns befassen: sinnliche Kategorien der Erfahrung und Anschauung, menschliche Kategorien des Leidens und der Anteilnahme und künstlerische Kategorien der Intuition und Gestaltung.

Neben der Phänomenologie und Wahrnehmungsforschung, anthropologischen und psychologischen Konzepten und wissenschaftlichen Grundlagen der Kunsttheorie und -philosophie haben wir es damit vor allem mit individuellen Lebenskonzepten und Menschenbildern derjenigen zu tun, die in der Kunsttherapie einander begegnen. Durch die Einbeziehung individueller Faktoren in eine wissenschaftliche Darlegung und Handhabung der Kunsttherapie scheint man sich aus dem wissenschaftlichen Diskurs zu begeben, weil damit nicht wie in anderen Bereichen reproduzierbare, vergleichbare oder statistisch verwertbare Informationen einhergehen. Für eine wissenschaftliche Grundlegung der Kunsttherapie ist es aber eher fragwürdig wesentliche Bedingungen kunstthera- peutischen Handelns ausblenden zu wollen, damit der Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung einer vorgegebenen Methode gerecht wird. Die Darstellung von Subjektivität in der Kunsttherapie ist ein wesentlicher Ausgangspunkt für die Entwicklung von geeigneten Instrumenten zur Dokumentation für eine Therapie, deren Erfolg wesentlich mit subjektiven Bedingungen, individuellen Einstellungen, Lebenskonzepten und Menschenbildern verbunden ist.

Wir stoßen damit gleichzeitig auf den Bereich, der die Schnittstelle zwischen kunsttherapeutischer und medizinischer Praxis ausmacht und eine gemeinsame Perspektive auf die therapeutische Behandlung erlaubt: Sie folgt den individuellen Wahrnehmungen aus der Begegnung mit dem kranken Menschen und führt zu individuellen Sinngebungen, Therapiekonzepten und Lösungsstrategien. In ihrem Hintergrund stehen unterschiedliche Modelle, die das Verhältnis von Gesundheit und Krankheit beschreiben (wie sie in diesem Band von Heinfried Duncker beschrieben sind), anthropologische Grundannahmen, mit denen sich Harald Gruber in seinem Beitrag befasst, psychosomatische und biopsychosoziale Konzepte, die die Krankheit als dynamisches Geschehen im Zusammenhang mit der Gesamtheit der menschlichen Konstitution auffassen und psychosoziale Bedingungen, durch die die Krankheit in soziale und soziokulturelle Zu- sammenhänge gelangt (z.B. von Uexküll / Wesiak 1988).

Damit verliert die vorrangige oder gar ausschließliche Zuordnung kunsttherapeutischer Forschung zum medizinisch-klinischen Forschungsbereich und hier vornehmlich zu quantitativen Methoden ihre Berechtigung. Dokumentationen, die eine Grundlage für gemeinsame Behandlungsstrategien von medizinischer und kunsttherapeutischer Behandlung bilden können, fokussieren nicht auf den kranken Menschen als Symptomträger, sondern auf die Bedingungen der inter- subjektiven Beziehung Therapeut – Patient und auf den Gesamtzusammenhang menschlichen Erlebens, in dem die Krankheitssymptomatik steht.

Grundlage einer Dokumentation, die die subjektiven Bedingungen der therapeu- tischen Beziehung, die mit der ästhetischen Handlung einhergehen, einschließt, ist die Fähigkeit, auf das eigene Handeln zu reflektieren: Sie erfordert ein Bewusstsein für die Motive des eigenen Handelns, für das eigene Menschenbild und die eigenen ästhetischen Sichtweisen. Der Beitrag von Barbara Narr in diesem Buch nimmt dazu pointiert Stellung und gibt einen entscheidenden Hinweis: „Die poetische Annäherung an einen kunsttherapeutischen Prozess muss also einen reflektierenden Anteil erhalten“. Dabei schließt die Reflektion auf das eigene Handeln ein Bewusstsein für subjektive, biographische, soziokulturelle, anthropologische oder philosophische Voraussetzungen, mit denen die thera- peutische Handlung zu tun hat, ein.ben, Fähigkeiten, Interessen, Lebenswegen, Menschenbildern etc., sowohl seitens der Be- handler wie auch der Behandelten. (Kriz 2000)

Resümee

Wenn wir die kunsttherapeutische Praxis begründen wollen, treffen wir auf Bedingungen, an die wir kein äußeres Maß herantragen können, da wir es mit individuellen, intersubjektiven Verhältnissen zu tun haben. Wir berühren damit aber auch einen Bereich, der zwischen Medizin und Kunst liegt und den Blick hinausführt über die unmittelbar am pathologischen Befund orientierte Behandlung.

Es gibt verschiedene Arten sich ein Bild zu machen. Der Arzt, der sich mittels Exploration, Anamnese und Untersuchung ein Bild von einer Krankheit macht, hat zunächst einen anderen Blick als der Kunsttherapeut, der sich mit ästhetisch- bildnerischen Phänomenen beschäftigt. Inhalt kunsttherapeutischer Praxis ist bildnerisches Gestalten. Die bildnerischen Phänomene erschließen sich erst vor dem Hintergrund der individuellen Begegnung zwischen Therapeut und Patient, in deren Rahmen eine ästhetische Handlung ihre Bedeutung gewinnt. Damit kommen anthropologische Konzepte, individuelle Sichtweisen, sinnliche Fakto- ren und die persönliche Anteilnahme ins Spiel, die auch den Blick des Arztes erweitern um die relativen und multifaktoriellen Bedingungen, die mit einer Krankheit verbunden sind – vorausgesetzt der Kunsttherapeut findet eine Möglichkeit der Dokumentation, die die subjektiven und jeweils individuellen Bedingungen der kunsttherapeutischen Praxis einschließt.

Literatur

Antonovsky A. (1997): Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: Dgvt-V erlag

David Aldridge (2002): Musiktherapie – eine Erzählperspektive. In: Petersen, P. (2002): Forschungsmethoden künstlerischer Therapien, Stuttgart: Maier. 136 f.

Kämpf-Jansen, H. (2002): Ästhetische Forschung. Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft. Zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung. Köln: Salon

Kriz, J. (2000): Perspektiven zur „Wissenschaftlichkeit“ von Psychotherapie. In: Hermer, Matthias (Hrsg.): „Psychotherapeutische Perspektiven am Ende des 21. Jahrhunderts“, Tübingen: Dgvt-Verlag

Kunzmann, B./ Aldridge D. et al. (2005): Gesetzlicher Rahmen des Fallpauschalengesetzes – Qualitätssicherung und Erfassung psychosozialer Leistungen. In: Zschr. für Musik-, Tanz- und Kunsttherapie Jg. 16, 2/ 2005. 87-94

Panofsky, E. (1975): Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (Meaning in the Visual Arts). Köln: Du Mont

Petersen, P. (2004): Forschungsmethoden künstlerischer Therapien unter Berücksichtigung von Wirksamkeitsstudien – Aufruf zu Besinnung auf die eigenen Quellen, S. 60 in: Henn, W. und Gruber H. (2004). Kunsttherapie in der Onkologie / Grundlagen, Forschungsprojekte, Praxisberichte. Köln: Richter

Sinapius, P. (2005): Therapie als Bild – Das Bild als Therapie / Grundlagen einer künstlerischen Therapie. Frankfurt am Main: Peter Lang.

Sontag, S. (1982): Kunst und Antikunst / 24 literarische Analysen. S. 21, Frankfurt am Main: Fischer

Tüpker, R. (2002): Forschen und Heilen. Kritische Betrachtungen zum herrschenden Forschungsparadigma. In: Petersen, P. (Hrsg.): Forschungsmethoden künstlerischer Therapien. Stuttgart/ Berlin: Mayer. 95-109

Von Uexküll T./ Wesick W. (1988): Theorie der Humanmedizin. München: Urban & Schwarzenberg

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