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Peter Sinapius

Eine deutsche Leitkultur gibt es nicht

Am 2.2.2024 kritisierten über 200 Kunstschaffende die Entscheidung der Festivalleitung der Berlinale, Politiker der AfD zur Eröffnung der Festspiele einzuladen. Diese Einladungen wurden inzwischen wieder zurückgezogen. Das hat gute Gründe.

Die AfD stellt in ihrem Programm der „Ideologie des Multikulturalismus“ die Forderung nach einer „deutschen Leitkultur“ entgegen — ein Begriff, mit dem sie pikanterweise den Schulterschluss zu Friedrich Merz herstellt, der am 18.10.2000 in der Rheinischen Post gefordert hatte, dass sich „Zuwanderer, die auf Dauer hier leben wollen, einer gewachsenen freiheitlichen deutschen Leitkultur anpassen“ müssten. Das mündet im AfD-Programm in die unverhohlene Drohung: „Die AfD wird nicht zulassen, dass Deutschland aus falsch verstandener Toleranz sein kulturelles Gesicht verliert“. Dahinter steckt nicht anderes als die Idee der Gleichschaltung der deutschen Kulturlandschaft, wie es sie schon einmal unter den Nationalsozialisten gab.

Um eine uniformierte Kunstauffassung durchzusetzen und die ideologischen Narrative der Nationalsozialisten in der Kunst zu etablieren, wurde im Zuge der kulturellen „Gleichschaltung“ am 10.4.1935 vom Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste angeordnet, dass alle Kunstausstellungen der Anmeldepflicht und vorherigen Genehmigung durch die Reichskammer der bildenden Künste unterliegen. Am 27.11.1936 folgte das Verbot der Kunstkritik durch eine Anordnung des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda. Und schließlich beseitigten die Nationalsozialisten die Kunst der Moderne aus den Museen und öffentlichen Sammlungen. Am 19.7.1937 zeigten sie in München in den Hofgarten-Arkaden die erste Ausstellung über die sogenannte „entartete Kunst“, in der 650 konfiszierte Kunstwerke aus 32 deutschen Museen ausgestellt wurden.

Was ein Kunstwerk repräsentierte, war für die Nationalsozialisten eine Folge von Zuschreibungen, die ihm vorausgingen und jene Sicht- und Betrachtungsweisen erzeugen sollten, die geeignet waren, die nationalsozialistische Ideologie als diskriminierende Praxis auch in der Kunst zu verankern. Deswegen machten sie die Kunst der Moderne zur Zielscheibe von aggressiver Rhetorik, Zensur und Zerstörung. Kultur war für sie eine Form der Machtausübung und Diskriminierung.

Mit dem Begriff „deutsche Leitkultur“ schützen diejenigen, die ihn nutzen, keine Kultur, sondern etablieren ein rassistisches Narrativ. Eine deutsche Leitkultur gibt es schlicht nicht. Warum? Mit Oscar Wilde könnte man so antworten: „Alle Kunst ist zugleich Oberfläche und Symbol. Jene, die sich unter die Oberfläche begeben, tun dies auf eigene Gefahr. Jene, die das Symbol deuten, tun dies auf eigene Gefahr. In Wirklichkeit spiegelt die Kunst den Betrachter und nicht das Leben wider.“

Die Forderung nach einer deutschen Leitkultur spiegelt so gesehen die diskriminierende Ideologie der Rechtsextremisten wider — und nicht das „kulturelle Gesicht“ Deutschlands.

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