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Peter Sinapius

Gerechter Zorn

In Erinnerung an das Theresienstädter Requiem 1944

Zwischen 1941 und 1945 wurden in Theresienstadt etwa 141.000 Menschen eingesperrt, darunter 70.000 alte Menschen und 15.000 Kinder. Es war eine Art Durchgangslager, von dem aus etwa 88.000 Häftlinge nach Auschwitz und in andere Vernichtungslager wie Treblinka, Majdanek oder Sobibor gebracht und dort ermordet wurden. Unter ihnen war auch Josef Bor, der als Einziger seiner Familie die Shoah überlebte. Sein Freund, der tschechisch-jüdische Dirigent Rafael Schächter, hatte 1944 in Theresienstadt Verdis Requiem, eine katholische Totenmesse, mit Jüdinnen und Juden, die den Tod vor Augen hatten, zur Aufführung gebracht. Davon handelt die Novelle „Theresienstädter Requiem“, die Josef Bor 1963 veröffentlichte.

Das Requiem musste dreimal neu einstudiert werden, weil nach jeder Premiere ein großer Teil des 150-köpfigen Chores mit einem Osttransport deportiert worden war. Im Kontext des Konzentrationslagers Theresienstadt wurde die dramatische Musik zu einer Anklage gegen die deutschen Unterdrücker, die Josef Bor in seiner Novelle so erzählt:

„Genug der Klagen!, befiehlt der Arm des Dirigenten und reckt sich weit empor. Ohne Taktstock, die Faust geballt. Und schlägt zu!
Es erbebt die Trommel, es scheppern die Pauken, es klirren die Bleche, es brüllen die Sänger, und mit ihnen zusammen wüten auch die Solisten, jetzt können sie nicht schweigen. […] Das letzte ›Dies irae‹! Der Tag des Zorns ist gekommen, endlich ist er da, in Stücke gerissen haben sie Eure Armeen, so wie ihr uns geprügelt und zerrissen habt, Ströme von Blut rinnen aus tiefen Wunden, und euer Land birst und bricht im Getöse und Rauch tausender herunterfallender Bomben. Und das geschieht zu Recht, nicht aus Rache, nicht aus Hass, sondern um der menschlichen Gerechtigkeit willen“.

Das »Dies irae!« war mehr als ein gemeinsam herausgeschriener Protest gewesen. Die jüdischen Musiker*innen und Sänger*innen brachten nicht nur das Requiem als katholische Totenmesse und die in ihr verankerte weltanschauliche Tradition zur Aufführung, sondern sie wandten sich auch gegen ihre Peiniger, in deren christlicher Kultur das Requiem seinen Ursprung hatte. Das wütende »Dies irae!« war das Ergebnis einer langwierigen Probenarbeit gewesen, in der sich eine soziale Gemeinschaft bildete, die ganz anders funktionierte als das alltägliche Leben in Theresienstadt unter den Bedingungen einer blutigen Terrorherrschaft.

Josef Bor lässt den Dirigenten vor die jüdischen Musiker*innen treten und sein Vorhaben mit den Worten erläutern:

„Hier ist kein Platz für Solisten, für Einzelne, denn der Tag, von dem wir singen, ist der Tag des Gerichts für alle und über alle. Über alle, die vergewaltigen, versklaven, schänden, rauben und morden. Das ist nicht dieses deutsche ›Es kommt der Tag‹, der Tag des Hochmuts, es ist auch kein Tag des Sieges oder der Niederlage. Es ist der Tag des Zorns, des gerechten Zorns“.

Quelle: Sinapius, Peter (2023): Vom Hinsehen und vom Wegsehen. Soziale Praktiken im Nationalsozialismus. Gießen: Psychosozial-Verlag

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