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Peter Sinapius

“Jeder Gegenstand hat sein Schweigen”

Man braucht, so schrieb der französische Philosoph Baudrillard einmal, „bei jedem beliebigen Gegenstand, will man über ihn sprechen, eine gute Dosis Schamlosigkeit: Jeder Gegenstand hat sein Geheimnis, jeder Gegenstand hat sein Schweigen“. (1)

Wer von einem spannenden Fußballspiel, einem beeindruckenden Konzert oder einer schlimmen Krankheit erzählt, spricht über sich und seine Erlebnisse. Es muss daraus schon eine erfahrungsgesättigte Geschichte werden, wenn ich sie nachvollziehen soll. Was ich aber erfahre, ist nicht das tatsächliche Ereignis, sondern die Geschichte. Jeder Gegenstand behält, will man über ihn sprechen, sein Geheimnis und sein Schweigen.

Dann schaue ich ins Internet und plötzlich gibt es kein Schweigen mehr. Die Welt besteht mit einem mal aus Nachrichten, Fakten, Voraussagen. Das Internet scheint eine schier unerschöpfliche Fundgrube für Fakten zu sein, durch die wir die Welt zwar nicht erfahren, sie uns aber erklären.

Begriffe scheinen nur noch Daten zu sein, die die Wirklichkeit abbilden. Hören wir aber noch auf das, was sie verbergen? Was meinen wir, wenn wir von „irregulärer Migration“ reden, als seien Kriminelle über das Mittelmeer unterwegs? Wenn wir eine deutsche „Leitkultur“ behaupten, von der keiner weiß, was das sein soll? Wenn wir andere als „Klimakleber“ bezeichnen und damit diskreditieren?

Weil Wirklichkeit nicht darin aufgeht, was sich darüber sagen lässt, sondern wie wir es sagen und weil das, was wir sagen, eine erfahrbare Gestalt hat, kann Sprache sowohl Mittel der Manipulation und Machtausübung sein, als auch soziale Beziehungen stimulieren. Wir sind verantwortlich für unsere Sprache und ihr Schweigen.

Michel Serres formulierte das zugespitzt so:

„Diese so verbreitete Idee, daß alles gesagt werden muß und alles sich in der Sprache löst, daß jedes wahre Problem Stoff für Debatten gibt, daß die Philosophie sich auf Fragen und Antworten reduziert, deren man sich nur sprechend annehmen kann, daß Lehre allein über den Diskurs erfolgt, dieser geschwätzige, theatralische, schamlose Gedanke verkennt, daß es Wein und Brot, ihren sanften Geschmack und ihren Geruch wirklich gibt, er übersieht, daß kaum merkliche Gesten gleichfalls lehren können, er vergißt das stillschweigende Einverständnis und die Komplizenschaft, er vergißt, was sich von selbst versteht, ganz ohne Worte, das stille Bitten um Liebe, die Eingebung, die einschlägt wie ein Blitz, die Anmut einer Bewegung […]; ich kenne so viele Dinge ohne Text und Menschen ohne Grammatik, Kinder ohne Wortschatz und Greise ohne Vokabular, ich habe so lange im Ausland gelebt, stumm und verschreckt hinter dem Vorhang der Sprachen. Hätte ich wirklich vom Leben gekostet, wenn ich mich aufs Hören und Reden beschränkt hätte? Das Kostbarste unter allem, was ich weiß, bleibt umfangen von Stille.“ (2)

Quellen:

(1) Kamper, Dietmar, Wulf, Christoph (Hsg.) (1992): Schweigen: Unterbrechung und Grenze der menschlichen Wirklichkeit. Berlin: Dietrich Reimer Verlag. S. 88.

(2) Serres, Michel (1998): Die fünf Sinne – Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 137.

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