Peter Sinapius

Krankheiten, Bilder und Morbus Parkinson

Eine Skizze
Vortrag im Rahmen des virtuellen Netzwerktreffens des Parkinsonnetzes Bremen+ am 23. März 2022

Was haben Bilder oder gar therapeutische Angebote wie die Kunsttherapie, in der mit Bildern gearbeitet wird, mit einer Krankheit wie Morbus Parkinson zu tun? Einen Zusammenhang zwischen Parkinson und Musiktherapie kann man sich vorstellen – aber eine Verbindung zwischen Parkinson und Kunsttherapie, also Parkinson und Bildender Kunst scheint nicht so offensichtlich zu sein. Wenn man Therapie und Bildende Kunst oder Musik zusammen denken will, ist diese Vermutung auf den ersten Blick plausibel: Musik scheint eine engere Verbindung zu psychodynamischen, emotionalen und sogar neuronalen Prozessen zu haben, die mit einer Krankheit verbunden sein können, als das Malen oder Betrachten von Bildern. Damit einher geht die naheliegende Vorstellung, Therapie habe in erster Linie die Aufgabe, Krankheitssymptome zu lindern oder eine unmittelbare und positive Wirkung auf Heilungsprozesse zu haben. Diese Vorstellung hat es allerdings schwer mit Krankheiten, die nicht heilbar sind, mit denen man also leben muss. Therapien, die sich damit beschäftigen, kümmern sich nicht um Heilung, sondern um Krankheitsbewältigung oder Coping – also darum, wie die Betroffenen die Krankheit in ihr Leben integrieren können oder sie zumindest als Herausforderung sehen, mit ihr zu leben (vgl. z.B. Sinapius 2009).

Was ich Ihnen heute kurz skizzieren will, ist die Verbindung zwischen einer Krankheit wie beispielsweise Morbus Parkinson und einer Disziplin, die sich gar nicht mit Krankheiten im medizinischen Sinne beschäftigt, sondern mit Bildern, durch die wir unsere Wirklichkeit versuchen wahrzunehmen und zu verstehen — der bildenden Kunst. Ich spreche also ausdrücklich nicht als Mediziner zu Ihnen, sondern als bildender Künstler, also als jemand, der sich mit Bildern beschäftigt. Ich möchte Ihnen zeigen, wie Bilder funktionieren und wie sie entstehen, d.h. wie sie unsere Sicht auf Dinge, Situationen und eben auch Krankheiten beeinflussen oder ändern (vgl. Sinapius 2007, Sinapius et al. 2010 und Behfeld/ Sinapius 2021). Um Ihnen darüber etwas zu sagen, nutze ich sowohl Bilder aus meiner eigenen künstlerischen Praxis, als auch Material aus der Literatur- und Kunstgeschichte.

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Bevor ich auf die Kunsttherapie respektive Bildende Kunst zu sprechen komme, möchte ich einen kurzen Exkurs unternehmen in die Geschichte der Parkinson-Erkrankung, also zu dem, was als „Morbus Parkinson“ bezeichnet wird und Ihnen zeigen, mit welchen Bildern diese Geschichte verbunden ist. Wenn wir über eine Krankheit wie „Morbus Parkinson“ sprechen, wählen wir einen Begriff, der diese spezifische Krankheit adressiert und verschiedene Symptome nach einem Klassifikationssystem zu einem Krankheitsbild zusammenfasst. Das ist das, was der Arzt James Parkinson vor gut 200 Jahren in seinem berühmten Aufsatz über die sog. Schüttellähmung unter dem Titel „An Essay on the Shaking Palsy“ gemacht hat (Parkinson 1817): Er hat verschiedene Symptome wie den Tremor, die Muskelsteifheit oder den gebeugten Gang in dem Begriff Schüttellähmung zusammengeführt und nicht mehr als getrennte Phänomene verstanden. Er hat sich im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild gemacht aufgrund von 6 Einzelfällen, die er beschrieb — dabei handelte es sich in 3 Fällen um eigene Patient*innen, 3 weitere hatte er mehr oder minder nur aus der Ferne wahrgenommen. Das ist aus der Sicht der heutigen evidenzbasierten Medizin eine denkbar dünne Datenbasis. Das Besondere seines Vorgehens war, dass er die Betroffenen nicht nur beobachtet, sondern auch mit ihnen gesprochen hat. Wir würden heute mit einem Begriff aus der Ethnografie vielleicht sagen: er war teilnehmender Beobachter (vgl. Tüpker et al. 2020). Er folgte damit seinen weltanschaulichen Überzeugungen. Er war eben nicht nur Mediziner, sondern auch Sozialreformer und engagierte sich politisch unter dem Pseudonym „Old Hubert“ für diejenigen, die keinen Zugang zu einer ausreichenden Gesundheitsversorgung hatten (vgl. Pies 1988). Sein Befund über die Schüttellähmung hatte also nicht nur diagnostische Kriterien zum Hintergrund, sondern auch ein Menschenbild, das es ihm erlaubte nicht nur das zu erfassen, was der äußerlichen Betrachtung zugänglich war, sondern Zusammenhänge, die mit der individuellen Situation der Betroffenen zu tun hatten und von den Betroffenen beschrieben wurden.

Abbildung 1: André Brouillet: A Clinical Lesson at the Salpêtrière (“Une leçon clinique à la Salpêtrière“)

Der Neurologe Jean-Martin Charcot hat dann im 19. Jahrhundert das Essay von James Parkinson, das bis dahin in Vergessenheit geraten war, aufgegriffen und den bis heute gültigen Krankheitsbegriff „Morbus Parkinson“ eingeführt (Ludin 2017). In der Arbeit von Charcot zeigte sich ein wissenschaftlicher Ehrgeiz, den er u.a. in öffentlichen Vorlesungen demonstrierte, die er über das inzwischen aus der Mode gekommene Krankheitsbild Hysterie abhielt. Dabei demonstrierte er – jenseits seiner wissenschaftlichen Verdienste – ein ganz anderes Arztverständnis als das von James Parkinson (vgl. Szasz 1975, S. 79). Ihn kümmerte weniger der individuelle Patient und sein Erleben. Auf einem Gemälde von André Brouillet (Abbildung 1) kann man Charcot in einer seiner wöchentlichen Vorlesungen sehen, die er seit 1863 abhielt (an denen auch Siegmund Freud teilnahm). Darin präsentiert Charcot vor einem Publikum, das ausnahmslos aus Männern bestand, sog. hysterische Patient*innen in hypnotisiertem Zustand und machte sie damit quasi zum Objekt seiner diagnostischen Überlegungen, die er in den Vorlesungen vornahm, anstatt seine Patient*innen als individuelle und autonome Persönlichkeiten anzusehen und zu behandeln.

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Gut 100 Jahre später erprobte Oliver Sacks in einem amerikanischen Krankenhaus als einer der ersten das Medikament L-Dopa, das von dem schwedischen Forscher Arvid Carlsson 1957 in seiner Wirkung auf die Produktion von Dopamin im menschlichen Gehirn erforscht worden war (Foley 2003, 224-229) — dem Botenstoff, der im Gehirn von Parkinson-Patient*innen nicht mehr in ausreichendem Maße hergestellt wird. Sacks dokumentierte seine Arbeit in dem Buch „Awakenings – Zeit des Erwachens“ (Sacks 1990a), das später unter dem selben Titel mit Robert de Niro und Robin Williams verfilmt wurde – ein Film, der übrigens selber einen Zusammenhang zwischen Kunst und einer Krankheit, die mit Parkinsonähnlichen Symptomen einherging, herstellt, indem er das Leiden unter einer Krankheit zum Thema eines Drehbuchs macht, an der wir so aus der Distanz eines Films, also einer künstlerischen Produktion, teilhaben können. Die Patient*innen von Oliver Sacks, deren Geschichte der Film erzählt, waren Überlebende der Encephalitis lethargica, der sogenannten „Schlafkrankheit“, die zwischen 1915 und 1927 in Europa epidemisch wütete und bei den Betroffenen unkontrollierbare Schlafanfälle und Parkinson-ähnliche Symptome auslöste. Sacks traf in den 70er Jahren in dem New Yorker Krankenhaus Mount Carmel auf eine Gruppe von 80 PatientInnen, die von dieser Krankheit betroffen waren und dort mehr oder weniger verwahrt wurden, da sie für Jahrzehnte unzugänglich für ihre Umgebung, teilweise vollkommen bewegungsunfähig in ihrer eigenen Welt lebten. Als das Medikament L-Dopa auf den Merkt kam, begann Sacks damit im Jahre 1968 zu experimentieren — mit erstaunlichem Erfolg. In das Krankenhaus kehrte das Leben zurück, die Patient*innen erwachten mit einem Male aus ihrem schlafähnlichen Zustand. Nicht wenig später allerdings musste sich Sacks mit zu seiner Zeit nicht beherrschbaren Folge- und Nebenwirkungen des Medikaments auseinandersetzen. Oliver Sacks dokumentierte diese Entwicklung mithilfe einer Super-8-Kamera (Sacks 1990b). Seine Aufnahmen dokumentieren das Erwachen in dem Krankenhaus oder zeigen Patient*innen in einem seltsam entrückten Zustand. Die Fallberichte, die Sacks über sie schreibt, sind eigentlich wissenschaftlich fundierte Erzählungen – sie bestehen also nicht aus nüchternen Fakten, sondern handeln von Geschichten, durch die die Leser ein Bild von den seinerzeitigen Zuständen in dem Krankenhaus Mount Carmel gewinnen können. Als er beginnt, sie in amerikanischen Zeitungen zu veröffentlichen, wird er dafür zunächst massiv angefeindet (Weschler 2021). Er schreibt nicht nur aus der Distanz eines an Krankheiten interessierten Neurologen, sondern aus Interesse an den betroffenen Menschen und einem Verständnis, das Krankheiten nicht nur als Folge biochemischer oder physiologischer Prozesse auffasst, sondern, wie er selber formulierte, als „das Menschliche im Kampf um Anpassung und ums Überleben. […] Es entstand“, so beschreibt er seine Arbeit mit diesen PatientInnen, „ein neuer Bezug, eine neue Bindung: die der Hinwendung zu den Patienten, den Individuen, für die ich zu sorgen hatte…“ (Sacks 1991, S. 27)

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Oliver Sacks repräsentierte mit dieser Haltung eine sich abzeichnende Strömung in der Gesundheitsversorgung, die sich zunehmend abwandte von einem rein mechanistischen Weltbild, das Krankheiten im Wesentlichen als eine Abweichung von der Norm qualifizierte, also etwas, das man bekämpfen und sich vom Leib halten müsse. An seine Stelle trat ein Therapieverständnis, das mehr und mehr den autonomen Patienten adressierte und seine Fähigkeit, auch unter den Bedingungen von Krankheit und Behinderung ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.

Eine Schlüsselrolle in diesem Diskurs spielte die Essayistin Susan Sontag mit ihrer Schrift „Illness as Metaphor“ (Sontag 2001) . Sie beschreibt darin am Beispiel der Krankheiten AIDS und Krebs eine Militarisierung der Sprache, wenn beispielsweise davon die Rede ist, sie auszurotten, zu bekämpfen oder zu besiegen. Eine solche Sprache, die Krankheiten dämonisiert und damit zu einer Prüfung für das Individuum macht einschließlich der damit verbundenen Zuschreibungen sind auch im Umfeld der Parkinson-Krankheit zu finden (vgl. Krüger-Fürhoff 2018). So formuliert Uwe Radelof für das sog. „Parkinson-Terminator-Projekt“ in einem fiktiven Rückblick aus dem Jahr 2030: „Das Parkinson Terminator-Project avancierte zu einem Model-Projekt in der Gesundheitsforschung. Sein Siegeszug katalysierte Terminator-Projekte für viele andere Krankheiten. Inzwischen sind regelrechte Gesundheitsarmeen entstanden, die den Krankheiten den Krieg erklärt haben. Eine Art „Dritter Weltkrieg“ ist im Gange. Hier kämpfen jedoch keine Menschen gegen Menschen. Es kämpft die Menschheit gegen ihre größten Feinde – die Krankheiten.“ (Radelof 2022) Eine solche Militarisierung der Sprache, wenn es um den Kampf gegen Morbus Parkinson geht, ist eher die Ausnahme — die Auffassung, dass Krankheiten eine metaphorische Bedeutung für individuelle Lebensentwürfe haben, ist dagegen weit verbreitet. Susan Sontag vertrat dagegen die Auffassung, „daß Krankheit keine Metapher ist und daß die ehrlichste Weise, sich mit ihr auseinanderzusetzen — und die gesündeste Weise, krank zu sein — darin besteht, sich so weit wie möglich von metaphorischem Denken zu lösen“ (Sontag 2003, S. 9).

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In unterschiedlicher Weise taucht in dieser kleinen Skizze über die Geschichte der Parkinson-Krankheit und dem damit verbundenen Therapieverständnis immer wieder der Begriff „Bild“ als Hintergrund unterschiedlicher Zugänge zu Krankheiten und ihrer therapeutischen Behandlung auf, sei es in dem Begriff Krankheitsbild, als Menschenbild oder als sprachliche Metapher, durch die damit verbundene Werte und Normen Eingang in unsere Kommunikation über Krankheiten finden. Damit spielt in unterschiedlichen Zusammenhängen der Bildbegriff eine Rolle, mit dem sich ausdrücklich nicht die Naturwissenschaft oder Medizin, sondern die Philosophie, die Medientheorie und natürlich die Bildende Kunst beschäftigt. Um diesen hier aufscheinenden inneren Zusammenhang zwischen äußeren Phänomenen und unserem Blick, aus dem ein Bild hervorgehen kann, geht es in der bildenden Kunst respektive der Kunsttherapie.

Sie sehen hier eine 80×120 cm große Grafik, Graphit auf Büttenpapier (Abbildung 2). Sie werden vielleicht nicht ohne Weiteres identifizieren können, was darauf zu sehen ist. Sie sehen keine Landschaft, kein Porträt, kein Stilleben. Meine Frage also an Sie: Was sehen Sie?

Abbildung 2: ohne Titel (MRT Wirbelsäule), 2022

Vielleicht sieht der eine oder andere darin eine MRT-Aufnahme von einem Rücken, also von einer Wirbelsäule. In der Tat handelt es sich um die grafische Darstellung einer MRT-Aufnahme der Wirbelsäule eines 75-jährigen Parkinsonpatienten mit einer massiven Kyphose nach einer Wirbelfraktur. Für einen Arzt ist eine solche MRT-Aufnahme diagnostisches Material. Wenn ich diese Aufnahme als bildender Künstler auf ein 80x120cm großes Stück Büttenpapier übertrage, setze ich mich mit den medialen Eigenschaften der Darstellung auseinander, die für den Arzt im Hintergrund bleiben müssen: Die Beschaffenheit des Papiers, die Dynamik des Hell-Dunkelkontrastes, die nach oben züngelnde Bewegung. Durch das Bild vermittelt sich also nicht nur etwas, das wir als menschliche Wirbelsäule lesen und diagnostisch interpretieren können, sondern auch das „Wie“ der Darstellung, das durch die medialen Bedingungen seines Erscheinens bestimmt wird. Dazu gehören bildnerische Merkmale wie Kontraste, kompositorische Bedingungen der Darstellung und andere Eigenschaften der beteiligten Medien. Es vermittelt sich damit nicht nur der symbolische Inhalt, sondern auch die Art der Darstellung. Das ist gleichsam so, wie sich sprachliche Botschaften nicht nur über ihren Inhalt, das „Was“, sondern auch über ihren stimmlichen Ausdruck, das „Wie“ vermitteln. Solange es allerdings um den Inhalt geht, taucht das „Wie“ der Darstellung gewöhnlich hinter dem „Was“ der Darstellung unter. Wenn Sie mir hier zuhören, steht der Inhalt meiner Worte im Vordergrund, ihre Aufmerksamkeit ist nicht so sehr auf die Melodie, den Rhythmus oder die Dynamik meiner Rede gerichtet. Das unterscheidet das Sprechen von dem Singen (vgl. Sinapius 2021). Ein Bild hat ebenso wie die Sprache nicht nur einen Inhaltsaspekt, der das „Was“ der Mitteilung ausmacht, sondern auch einen Beziehungsaspekt, das „Wie“ der Mitteilung – die Intensität, Dynamik oder Komposition der Darstellung. Paul Watzlawick spricht in Bezug auf sprachliche Äußerungen daher von der Inhalts- und der Bildseite der Kommunikation (Watzlawick 2000). Diese unterschiedlichen Mitteilungsebenen sind nicht nur mit sprachlichen, sondern auch mit bildnerischen Darstellungen verbunden. Das, was gewöhnlich hinter dem symbolischen Gehalt einer Darstellung liegt, wird normalerweise erst explizit, wenn wir es als künstlerisches Material nutzen: Wenn wir singen oder Bilder herstellen. Und genau an diesem Punkt setzen künstlerische Therapien an.

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Warum erzähle ich Ihnen das? In der Kunsttherapie werden in der Regel wahrscheinlich keine MRT-Aufnahmen als Zeichenvorlagen verwendet — aber wir können uns, wenn wir uns künstlerisch mit Bildern beschäftigen, Bilder herstellen oder Bilder, denen wir ausgesetzt sind, dekonstruieren. Damit tritt das in der Vordergrund, was gewöhnlich in Form von Normen, Glaubenssätzen oder Wertvorstellungen im Hintergrund diagnostischer Einschätzungen verbleibt. In der Kunst ist es genau anders herum: das, was wir ausdrücken, vermittelt nicht nur eine Tatsache, der wir dann ausgeliefert sind, sondern es erzählt eine Geschichte über sie. Während wir dem Leiden, dass mit einer Krankheit einhergehen kann, mehr oder weniger ausgeliefert sein können, machen wir es in der Kunst zu unserem Gegenstand und betten es ein in unsere Vorstellungen von der Welt. Das will ich Ihnen an 3 kleinen Beispielen aus der Kunstgeschichte vor Augen führen.

Abbildung 3: Jacopo del Casentino (1297 - 1349): Hausaltar, um 1336/37. Kunsthalle Bremen

Am Beispiel der christlichen Ikonographie können Sie eindrücklich erleben, in welchem Verhältnis Bilder zu unserem Selbst- und Weltverständnis stehen. Hier sehen Sie einen kleinen Altar von Jacopo del Casentino aus dem Jahre 1336/37, der in der Bremer Kunsthalle ausgestellt ist (Abbildung 3). In der Mitte befindet sich Maria mit dem Jesuskind, darunter ihre aufgebahrte Leiche, rechts die Kreuzigung und links das Jüngste Gericht. Leiden, Vergänglichkeit und Tod sind, wie hier exemplarisch zu sehen, in der abendländischen Kulturgeschichte zentrale Motive und aufs Engste mit einem christlichen Menschenbild verknüpft, dessen zentrale Komponenten Verletzlichkeit und Nächstenliebe sind. Der Altar ist dabei selber ein Objekt der Anbetung, also mit einer hierarchischen Ordnung verbunden, die gesellschaftlich seinerzeit in dem Zusammenfallen der religiösen und politischen Macht zum Ausdruck kommt.

Abbildung 4: Caspar David Friedrich (1774 - 1840): Das Friedhofstor

Wenn wir einen großen kunstgeschichtlichen Sprung in die Romantik machen, werden Bilder zu Objekten der Anschauung und weisen den Betrachter*innen eine andere Rolle zu (Abbildung 4). In den Bildern von Caspar David Friedrich wird das menschliche Leiden metaphorisch verarbeitet. Hier zeige ich Ihnen (auch aus der Kunsthalle Bremen) das Bild mit dem Titel „Friedhofstor“. Im Vordergrund das düstere Diesseits, im Hintergrund das verheißungsvolle Jenseits, für das die göttliche Natur steht. Hier entfaltet das Bild nicht – wie noch im Mittelalter – die christliche Inkonographie in Gestalt von Geschichten aus dem Evangelium, sondern der Betrachter wird in eine Situation geführt, in der er an der bildlichen Darstellung die Erfahrung von Leiden, Vergänglichkeit und Tod machen kann, die metaphorisch an spirituelle Vorstellungen vom Diesseits und Jenseits anknüpft.

Abbildung 5: Joseph Beuys: Zeige deine Wunde 1974–1975, 1980 Installation Lenbachhaus, München

In der Moderne thematisiert schließlich Joseph Beuys die Verletzlichkeit des Menschen unter gesellschaftspolitischen Vorzeichen (Abbildung 5). „Zeige Deine Wunde“ ist eine Installation, die 1979 von der Städtischen Galerie im Lenbachhaus angekauft wurde und für bundesweite Proteste sorgte (u.a. wurde sie als „teuerster Sperrmüll aller Zeiten“ bezeichnet). Im Hintergrund sind zwei Leichenbahren aus der Pathologie zu sehen, darüber 2 mit Fett gefüllte Zinkblechkästen, 2 schwarze Schultafeln, auf den (hier kaum zu lesen) „Zeige Deine Wunde“ steht, rechts und links an der Wand lehnende Werkzeuge, sowie 2 Holzkästen mit Ausschnitten einer italienischen Zeitung. Die Gegenstände der Installation symbolisieren jeweils Themen, die mit Krankheit und Tod in Verbindung stehen. Bei Joseph Beuys gewinnen sie eine soziale und gesellschaftliche Dimension. Er sagt zu dieser Installation: „Zeige deine Wunde, weil man die Krankheit offenbaren muß, die man heilen will. Der Raum […] spricht von der Krankheit der Gesellschaft. […]“. (Herbig 1980)

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Ich habe mit diesen Beispielen einen großen Bogen geschlagen vom Mittelalter, in dem der Altar Ort der Andacht, des Gebets und der Demut ist, über die Romantik, in der der leidende Mensch auf sich selber zurückgeworfen wird, bis hin in die Moderne, in der es um das autonome Subjekt geht, das soziale Verantwortung übernehmen soll. In der jeweiligen Kunst spiegeln sich so ganz unterschiedliche Werte und Normen wieder, die mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Ordnungen verbunden und in der jeweiligen Kulturepoche verankert sind.

Welche Konsequenzen könnte ein sich damit abzeichnendes Bildverständnis, das mit unterschiedlichen Perspektiven auf Leiden, Vergänglichkeit und Tod verbunden ist, für die Kunsttherapie haben und welche Folgen hätte das für die Zusammenarbeit von Patient*in und Therapeut*in? Inwiefern lassen sich diagnostische Einschätzungen trennen von gesellschaftlichen, kulturellen oder individuellen Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit? Spätestens mit der Psychiatriereform in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts geraten Vorstellungen ins Wanken, die Patien*innen in erster Linie zum Objekt medizinischer Behandlungen machen. Gegenüber einer paternalistischen Arzt-Patient-Beziehung wird die Förderung der Autonomie der Patient*innen in den Vordergrund gerückt. So kritisierte Klaus Dörner die paternalistische Haltung mit den Worten: „Ich als Arzt-Subjekt unterwerfe Dich mir und mache Dich zu meinem Patienten-Objekt, da Du auf diese Weise am schnellsten wieder Subjekt werden kannst.“ (Dörner 2001,S.71) Und Thomas Bock beschrieb diese Art der therapeutischen Beziehung mit psychiatrischen Patient*innen als einseitig und hierarchisch: „Im Umgang mit eigensinnigen Patienten macht es sich die moderne Psychiatrie bequem, indem sie Krankheitseinsicht und Compliance, also Kooperation, mehr von den Patienten als von sich selbst verlangt. Der Patient soll Einsicht zeigen, d.h. unsere Sicht der Krankheit übernehmen. Wir selbst bemühen uns kaum noch um tieferes Verständnis, begnügen uns mit Diagnosen, als könnten die erklären, was sie bestenfalls beschreiben: Wir fragen nicht mehr, warum jemand Stimmen hört und welche, sondern nur, ob. Wir geben es auf, wirklich Einsicht zu nehmen, verlangen sie aber umgekehrt vom Patienten. Er soll sich unsere Diagnostik zu Eigen machen, soll Krankheitseinsicht zeigen. Gleichzeitig sprechen wir akut psychotischen Patienten die Einsichtsfähigkeit ab, setzen sie aber als Bedingung für Veränderung vor- aus, lehnen eine Behandlung ohne Einsicht oftmals sogar ab« (Bock 2017, S. 276).

Je nach dem, um was es geht, ist die therapeutische Beziehung eher hierarchisch oder eher partizipativ ausgerichtet. Wenn es um neurologisch-diagnostische Einschätzungen geht, sind die Ärzt*innen die Expert*innen. Wenn es um individuelle Krankheitsgeschichten geht, sind es die Patient*innen. Aus der Perspektive eines paternalistischen Therapieverständnisses reduziert die Diagnose „Morbus Parkinson“ eine individuelle Krankheitsgeschichte und das Krankheitsbild auf neurodegenerative Phänomene, die sich symptomatisch äußern. Mit der Diagnose wird allerdings nicht nur ein Sachverhalt ausgedrückt, es werden unausgesprochen auch Vorstellungen und Metaphern mobilisiert, die mit dieser Diagnose einhergehen. Diese Vorstellungen und Metaphern werden erst dann zugänglich, wenn die Patient*innen — wie in der Kunsttherapie — selber die Möglichkeit haben, sich ein Bild von ihrer Situation zu machen. Sie werden zu den Autor*innen ihrer Geschichte.

Als vor etlichen Jahren eine Patientin nach einer depressiven Episode zu mir in die Kunsttherapie kam, bestand sie darauf, ausschließlich mit schwarzer Farbe malen zu wollen — schwarz als Symbol für Trauer, Dunkelheit und Hoffnungslosigkeit. Ich habe diesen Wunsch aufgegriffen und ihr vorgeschlagen, schwarz aus den Grundfarben des Farbenkreises – rot, gelb und blau – zu mischen. Das hat sie dann gemacht und überrascht festgestellt, dass es unendlich viele Schwarztöne gibt, die wir mit Namen bezeichnen wie Elfenbeinschwarz, Rebschwarz, Lampenschwarz, Eisenoxidschwarz, Samtschwarz usw. usf. Ohne es darauf anzulegen, entwickelte sie einen differenzierten Blick für das, was oft nur undifferenziert mit der Farbe „Schwarz“ in einen symbolischen Zusammenhang gebracht wird. Durch die aktive Auseinandersetzung mit den phänomenalen Eigenschaften der Darstellung verlor die Farbe Schwarz ihre symbolische Kraft und Ausschließlichkeit.

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Ich habe mit Ihnen jetzt kleine Exkurse unternommen in die Geschichte des Krankheitsbildes „Parkinson“, in das Menschenbild, das in der Kunst- und Kulturgeschichte seine Spuren hinterlassen hat und in die therapeutische Praxis, in der Bilder anschaulich werden, die gewöhnlich im Hintergrund bleiben. Ich kehre damit zu der Ausgangsfrage zurück: Was haben Bilder oder gar therapeutische Angebote wie die Kunsttherapie, in der mit Bildern gearbeitet wird, mit einer Krankheit wie Morbus Parkinson zu tun? Ich ziehe folgende vorläufigen Schlüsse: Bilder sind der Hintergrund für die Geschichten, durch die wir mit der Welt verbunden sind. In ihnen artikulieren sich jene Glaubens- oder Ordnungssysteme, Überzeugungen, Normen und Werte, durch die wir uns ein Reim auf die Wirklichkeit machen können. Damit James Parkinson sich ein Bild von einer Krankheit machen kann, muss er nicht nur kühler Diagnostiker sein, er muss sich auch mit der individuellen Geschichte seiner Patient*innen beschäftigen. Wenn eine Neurologin eine Diagnose erstellt, macht sie das auf Grund von diagnostischen Kriterien, die individuell nicht beliebig sind. Allerdings wird mit einer MRT-Aufnahme eines geschädigten Rückens nicht nur eine diagnostische Aussage getroffen, sondern auch in das Leben eines Menschen eingegriffen. Und dann geht es um Bilder, durch die Krankheiten und Diagnosen mit individuellen Lebensgeschichten verbunden sind.

Literatur

Behfeld, M.; Sinapius, P. (2021): Handbuch Künstlerischer Therapien: Kritik und Philosophie der therapeutischen Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht

Bock, Thomas (2017): Eigensinn und Psychose – »Noncompliance« als Chance. Neumünster: Paranus.

Dörner, Klaus (2001): Der gute Arzt. Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung. Stuttgart, New York: Schattauer.

Foley, Paul (2003): Beans, roots and leaves: A brief history of the pharmacological therapy of parkinsonism. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen. Band 22, 2003, S. 215–234.

Herbig, Jost (1980): Die Dinge haben ihre Sprache. Interview mit Joseph Beuys. In: Süddeutsche Zeitung, 26./27. Januar 1980.

Krüger-Fürhoff, Irmela Marei (2018): Körperliche Grenzerfahrungen und ‚künstliche Natürlichkeit‘ in literarischen Texten zu Parkinson und tiefer Hirnstimulation (Helmut Dubiel, Ute Schmidt, Richard Wagner). Zeitschrift für Germanistik, 28(3), 486–501. http://www.jstor.org/stable/26583392

Ludin, Hans-Peter (2017): 200 Jahre Parkinsonsyndrom 1817-2017. Basel: Schwabe.

Parkinson, James (1817): An Essay on the Shaking Palsy. Nach der Erstausgabe von 1817 aus dem Englischen von Jürgen Flügge. Norderstedt: Books on Demand GmbH.

Pies, Norbert J. (1988): James Parkinson (1755 – 1824): Arzt – Apotheker – Paläontologe – Sozialreformer. Frankfurt am Main: Merz & Co.

Radelof, Uwe (2022): Parkinson-Terminator-Projekt. Vision 2030. https://ptp42.de/vision2030/ (abgerufen am 15.01.2022)

Sacks, Oliver (1990a): Awakenings. New York: Harper Perennial. Deutsche Ausgabe: Awakenings — Zeit des Erwachens. Reineck bei Hamburg: Rowohlt.

Sacks, Oliver (1990b): Dr. Oliver Sacks and the Real Life ‚Awakenings‘. https://www.youtube.com/watch?v=-n4ypD6G3aI (abgerufen am 22.01.2022)

Sinapius, Peter (2007): Therapie als Bild – Das Bild als Therapie / Grundlagen einer künstlerischen Therapie. Frankfurt am Main: Verlag Peter Lang.

Sinapius, Peter (Hg.) (2009): „So möchte ich sein” / Krankheitsbewältigung bei Krebs – Bilder aus der Kunsttherapie. Köln: Claus Richter Verlag.

Sinapius, Peter, Wendlandt-Baumeister, M., Niemann, A.; Bolle, R. (Hg.) (2010): Bildtheorie und Bildpraxis der Kunsttherapie. Frankfurt am Main: Verlag Peter Lang.

Sinapius, Peter (2021): Singen und Sagen – Wie kommt die Musik in die Rede und wie kommt die Bedeutung in das Wort? Virtueller Vortrag auf dem 10. Grazer Musik Therapie Tag 2021 – „Auf jetzt!“ – Die Kunst des Alten und die Kraft des Neuen in der Musiktherapie 19.–21.11.2021. https://www.researchgate.net/publication/356441803_Singen_und_Sagen_-_Wie_kommt_die_Musik_in_die_Rede_und_wie_kommt_die_Bedeutung_in_das_Wort (abgerufen am 20.02,2022)

Sontag, Susan (2001): Illness as Metaphor and AIDS and Its Metaphors. New York: Picador.

Sontag, Susan (2003): Krankheit als Metapher. München, Wien: Carl Hanser Verlag.

Szasz, Thomas S. (1975): Psychiatrie, die verschleierte Macht – Essays über die psychiatrische Entmenschung des Menschen. Olten: Walter-Verlag.

Tüpker, R.; Schmid, G.; Gruber, H.; Sinapius, H. (Hg) (2020): Teilnehmende Beobachtung in Kunst und Therapie. Hamburg, Potsdam, Berlin: HPB University Press.

Walusinski, Olivier (2017): Jean-Martin Charcot (1825–1893): A Treatment Approach Gone Astray? European Journal of Neurology 2017;78. S. 296–306.

Watzlawick, P.; Beavin, J. H.; Jackson, D. D. (2000): Menschliche Kommunikation/Formen, Störungen, Paradoxien. Bern: Huber.

Weschler, Lawrence (2021): Oliver Sacks. Ein persönliches Porträt. Reineck bei Hamburg: Rowohlt.

Abbildungen

Abbildung 1:
A Clinical Lesson at the Salpêtrière (“Une leçon clinique à la Salpêtrière“) by André Brouillet. https://en.wikipedia.org/wiki/A_Clinical_Lesson_at_the_Salpêtrière#/media/File:Une_leçon_clinique_à_la_Salpêtrière.jpg (abgerufen am 01.02.2022)

Abbildung 2:
Ohne Titel, Grafit und Tusche auf Büttenpapier, 120×80 cm (2022). Eigene Aufnahme.

Abbildung 3:
Jacopo del Casentino (1297 – 1349): Hausaltar, um 1336/37. Kunsthalle Bremen. In: Remix – Die Sammlung. Köln: Wienand Verlag. S. 28

Abbildung 4:
Caspar David Friedrich (1774 – 1840): Das Friedhofstor. Kunsthalle Bremen. In: Remix – Die Sammlung. Köln: Wienand Verlag. S. 98

Abbildung 5:
Joseph Beuys: Zeige deine Wunde 1974–1975, 1980 Installation Lenbachhaus, München. Foto: Lenbachhaus, Ernst Jank © VG Bild-Kunst, Bonn 2018

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