Zunächst wäre zu klären, ob und inwieweit Sprache dazu in der Lage ist, Sachverhalte begrifflich wertfrei und objektiv abzubilden und sie zu vergegenwärtigen. Stellen Sie sich folgende Szenerie vor:
Es ist ein später Sonntagnachmittag. Im Zentrum der Stadt geht die Sonne unter und die Straßen, die in die Vorstadt führen, sind menschenleer. Die untergehende Sonne scheint auf eine Platane, die vor einer Gasstätte steht, sie scheint auch auf die Kiesel eines Flusses, der sich dahinter befindet und sie scheint auf die Wand eines Zimmers im Souterrain eines Hauses an der Straße, auf der die Schatten vorbeieilender Passanten zu sehen sind. In der Ferne wird auch ein Berg von der Sonne beschienen.
Na und, werden Sie vielleicht sagen: Und jetzt? Sie warten auf den Moment, der diese Szenerie berichtenswert macht oder ihr einen Sinn verleiht, der über ihre nüchterne Beschreibung hinausweist.
In dem Märchen „Die Abwesenheit“ von Peter Handke liest sich diese Szenerie folgendermaßen:
„Es ist ein später Sonntagnachmittag, mit schon langen Schatten der Statuen auf den Plätzen des Zentrums, und leeren Vorstadtstraßen, wo der gewölbte Asphalt einen Bronzeschimmer hat. Aus einer Gaststätte dringt nichts nach außen als das Sirren des Ventilators an der Fassade, zwischendurch ein Klappern. Ein Blick geht hinaus ins Astwerk einer Platane, so als stünde da jemand an ihrem Fuß, in Betrachtung der unzähligen, immerfort pendelnden Samenkugeln, der einzelnen großlappigen, langstengeligen Blätter, die sich rückhaft zusammengelegen wie ein vielarmiger Lotse, und der schaukelnden, tiefgelben Sonnennester im Laub, wo der breite gescheckte Stamm sich gabelt, ist eine Kuhle wie für ein Tier. Ein anderer Blick geht hinab in einen schnellfließenden Fluß, welchen, vom Ufer aus gesehen, die Sonne durchscheint bis auf den Grund: dort steht ein langer Fisch, hellgrau wie die Kiesel, die unter ihm in der Strömung rollen. Es ist die Zeit, da die Sonnenstrahlen auch die Wand eines Souterrain-Zimmers erreichen; sie füllen die ganze bilderlose Fläche aus und lassen den Kalk dort körnig wirken. Der Raum ist weder verlassen noch unbewohnt; es bevölkern ihn, immer in Augenhöhe, die Schattenrisse kreuzender Vögel und, in Abständen, der Passanten auf der Straße, von der die Mehrzahl Radfahrer sind. Ebenso in Augenhöhe zeigt sich im Freien, am Horizont, von der letzten Sonne bestrahlt, ein einzelner, fernöstlicher Berg. Das Bild kommt nah und macht oben auf der Rundung den schroffen Felsgipfel deutlich, welcher mit seinen Zinnen, Kaminen, Vorsprüngen und gläsernen Flanken an eine uneinnehmbare, auch unzugängliche Burg erinnert. – Die Sonne ist untergegangen; hier und da ein Licht in den Häusern; auf der leeren Wand des Souterrain-Zimmers der Abglanz des gelben Himmels, durchquert von inzwischen umrißlosen Schemen. So vollkommen leer ist die Wand nicht: es rückt nun ins Bild ein kleiner Abreißkalender, mit einer dickroten Zahl.“ (1987, S.7 f.)
In der ethnologischen Forschung würde man diese Art der Darstellung vielleicht „Dichte Beschreibung“ nennen (Geertz 2003). Handkes Beschreibung ist nicht verobjektivierend, sondern erfolgt aus einem subjektiven Blickwinkel. Sie ist bildhaft und erfahrungsgesättigt, so dass wir uns ein Bild machen können: „…der gewölbte Asphalt [hat] einen Bronzeschimmer“, zu hören ist „das Sirren des Ventilators“, im Fluß „steht ein langer Fisch“. Jenseits objektiver Daten erschließt sich die Situation, indem der Blick des Lesers durch die Szene geführt wird, an manchen Stellen verweilt er, andere Dinge, die auch zu sehen sind, übergeht er. Sprachlich begnügt sich Handke nicht damit, die Situation möglichst sachlich zu erfassen. Stattdessen spielt er mit Bedeutungen, nutzt Metaphern und Assoziationen um die Phantasie und Vorstellungskraft des Lesers anzuregen und sprachlich die Distanz zwischen Begriff und Situation zum Verschwinden zu bringen.
Wenn wir darüber sprechen, wie wir etwas sehen oder gesehen haben, nutzen wir die Sprache nicht, um Situationen begrifflich abzubilden. Begriffe bezeichnen nicht einfach die Wirklichkeit von Dingen, die wir wahrnehmen, sondern sie bringen sie erst hervor, durch die Art und Weise, wie sie der Wahrnehmung zugänglich gemacht werden. In dem Märchen von Peter Handke werden sprachlich Bedingungen hergestellt, unter denen Erfahrungen an der Art und Weise des Sprachgebrauchs gemacht werden können. Er bezieht sich sprachlich nicht nur auf eine zurückliegende Situation, sondern er stellt sprachlich eine Situation her, die sinnlich zugänglich ist. Um das zu tun, braucht Handke ein Gefühl für die intermedialen Bezüge, die sich im Medium der Sprache bildlich, melodisch oder rhythmisch vermitteln und die an die ganze Bandbreite ästhetischer Empfindungen anknüpfen können.
Die Sprache tritt so als ,Schwellenphänomen’ (Krämer 2005, S. 88) in Erscheinung, indem sie nicht nur semantisch Bedeutungen vermittelt, sondern sinnlich auch Atmosphären herstellt. Dazu ist sie in der Lage, weil durch sie latent verschiedene Medien zusammengeführt werden.