Der Begriff „Selbstverwirklichung“ ist aber noch mit einer anderen Tradition verbunden und erfährt eine eigentümliche Wendung, sobald er mit dem Begriff „Gesundheit“ in einen Zusammenhang gebracht wird. Das Augenmerk liegt dann nicht mehr auf der Beziehung des Menschen zu seiner Lebenswelt, in der sich das Selbst realisiert, sondern auf dem Wohlbefinden, so dass sich der Blick auf die innerseelischen Vorgänge einzelner Subjekte verlagert.
In dem Buch »We’ve Had a Hundred Years of Psychotherapy – And the World’s Getting Worse« (1992) haben die Psychotherapeuten James Hillman und Michael Ventura diesen Umstand pointiert beschrieben. Sie stellten fest, dass die Psychotherapie infolge des ausschließlichen und eingeschränkten Blicks auf innerseelische Phänomene den Blick auf die Welt verloren hat: »Indem sie die Seele aus der Welt herausnimmt und nicht erkennt, dass die Seele auch in der Welt ist, kann die Psychotherapie nicht mehr funktionieren« (Hillman u. Ventura 1999, S. 13).
Wie kommt die Seele in die Welt? Woran erkennen wir, dass jemand ein unverwechselbares Individuum ist, das ausgestattet ist mit einer unverwechselbaren Selbst, durch das er sich von Anderen unterscheidet? Das Selbst ist ja nicht einfach sichtbar. Warum kann ich einen Unterschied feststellen zwischen einem Subjekt, das mir als diese einzigartige Persönlichkeit begegnet und einem leblosen Körper oder einer Puppe. Jean Paul Sartre hat sich diesen Fragen in einem Gedankenexperiment folgendermaßen genähert:
„Ich befinde mich in einem öffentlichen Park. Nicht weit von mir sehe ich einen Rasen und am Rande des Rasens Stühle. Ein Mensch geht an den Stühlen vorbei. Ich sehe diesen Menschen, ich erfasse ihn als Objekt, gleichzeitig auch als Menschen. Was bedeutet das? Was will ich damit sagen, wenn ich von diesem Objekt behaupte, daß es ein Mensch ist?
Wenn ich denken müßte, daß es weiter nichts als eine Puppe ist, würde ich ihm jene Kategorien beilegen, die mir gewöhnlich dazu dienen, die raumzeitlichen «Dinge» zu gruppieren. Das heißt, ich würde ihn als etwas auffassen, das «neben» den Stühlen ist, 2,20m vom Rasen weg einen gewissen Druck auf den Erdboden ausübt usw. Seine Beziehung zu den anderen Objekten würde von einem rein additiven Typus sein; das bedeutet, daß ich ihn verschwinden lassen könnte, ohne daß die gegenseitigen Beziehungen der anderen Objekte dadurch merklich geändert würden.“ (Sartre 1943/1993, S. 459)
Vor dem Hintergrund dieses Gedankenexperiments könnte ich Sie jetzt fragen: Was unterscheidet mich in Ihren Augen von einer Puppe oder einem Stuhl. Warum schreiben Sie mir Eigenschaften zu, die Sie dem Stuhl, auf dem Sie sitzen, nicht zuschreiben. Warum erblicken Sie, wenn ich hier vor Ihnen stehe keine Puppe, sondern ein Subjekt, das ausgestattet ist mit einem unverwechselbaren Selbst?
Sie könnten jetzt zu recht sagen, dass ihr Stuhl nicht spricht oder eine Puppe ihnen nicht antwortet. Die Frage beginnt aber interessant zu werden, bevor ich spreche oder antworte. In der Sozialphilosophie (vgl. Althusser 1977, S. 142) wird dafür das Beispiel des Polizisten herangezogen, der einen Menschen, der über die Straße geht, anruft mit den Worten: „Heh, Sie da!“ Er konstituiert den anderen in seiner Ansprache als Subjekt, bevor der Andere sich als Subjekt zu erkennen gegeben hat. Und er konstituiert ihn in diesem Fall aus einer Position der Macht. Das kann er nicht einfach so, sondern nur deswegen, weil es ihm seine gesellschaftliche Position erlaubt. Worauf ich hinaus will: Ein Subjekt zu sein, ist vor allen Dingen ein Produkt gesellschaftlicher und kultureller Anerkennungsverhältnisse und mit ihnen einhergehender Zuschreibungen. Wir sind nicht einfach Subjekte, die unabhängig von den gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen, unter denen wir leben, ihr Selbst verwirklichen können. Subjektwerdung und damit Selbstverwirklichung ist ein Akt wechselseitiger Anerkennung.
Wenn Sie in der Lage sind, mich anders zu adressieren als einen Stuhl oder eine Puppe, ist es ihr Blick, der den Unterschied macht. Ein Blick kann vor dem Hintergrund kultureller, normativer oder gar diskriminierender Zuschreibungen in unterschiedlicher Weise einen anderen Menschen betreffen und ihn als Person adressieren. Er kann ihn erkennen als Polizisten, als Mann oder Frau, Auto- oder Radfahrer, als Postbeamten, als Rollstuhlfahrer, als Bettler, als Spaziergänger oder ihn klassifizieren als von der Norm abweichend, als krank, verrückt, faul oder gestört. Er ordnet ihn damit ein in ein Bewertungs- oder Klassifikationssystem, dass ihn zu einem sozialen Subjekt macht, das ausgestattet ist mit einem Selbst einschließlich bestimmter Eigenschaften, Potentiale oder Defizite.