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Peter Sinapius

Über Rassisten, Täter und Trittbrettfahrer

„Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“, hatte Olaf Scholz am 20.10.2023 im Spiegel gesagt und fast zeitgleich pöbelte Friedrich Merz im Fernsehen gegen Migrant*innen. Drei Monate später deckte Correctiv das Geheimtreffen von Rechtsextremisten und ihre Deportationspläne auf. Das hatte eine in Deutschland noch nie dagewesene Massenbewegung gegen Rechts ausgelöst.

Das Ganze ist ein Lehrbeispiel dafür, wie sich ein Referenzrahmen zu verschieben droht, innerhalb dessen sich in der Gesellschaft rassistische Ideologien verbreiten können. Wie das funktioniert lässt sich an der Geschichte des Nationalsozialismus studieren.

Um zu verstehen, was Menschen dazu gebracht hat, im Nationalsozialismus von menschlichem Handeln, auf dem moralisches Verhalten gründet, abzusehen und unmenschlich zu handeln oder solche Handlungen billigend in Kauf zu nehmen, wurden in der Literatur verschiedene Tätertypologien diskutiert, die vom pathologischen Gewaltverbrecher über den weltanschaulichen Überzeugungstäter und den bürokratischen Schreibtischtäter bis zum opportunistischen Karrieretäter reichten.

Gegen diese Tätertypologien sprach die Beobachtung, dass die Täter häufig aus der Mitte der Gesellschaft kamen, ohne sie einem bestimmten „Täterprofil“ zuordnen zu können. Welzer kam zu dem Schluss, dass die Täter erschreckend normal waren und bruchlos ein Leben führen konnten, dass „die Erschießung von, sagen wir, 900 Männern, Frauen und Kindern ebenso enthält wie das Nachdenken darüber, welches Studienfach denn wohl für den eigenen Sohn das geeignete wäre“.

Ein Grund, warum aus normalen Menschen Täter wurden, war – wie es Welzer nannte – die „Verschiebung des Referenzrahmens“, der es den Betroffenen erlaubte, ihr Handeln als etwas zu verstehen, das durch Gesetze legitimiert, durch das herrschende Menschenbild gedeckt und von ihrer Person und auch – erschreckenderweise – von den betroffenen Personen unabhängig sei.

Dieser Befund gilt, so scheint mir, nicht nur für überführte Massenmörder, sondern auch für jene, die Zeug*innen von Diskriminierung und Verbrechen waren oder sie auch nur geduldet haben. Der Referenzrahmen für menschliche Verbrechen verschob sich spätestens mit dem rassistisch oder ethnisch begründeten Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen aus den sozialen Gemeinschaften und damit auch aus dem Geltungsbereich moralischen Handelns.

Etwas Ähnliches ist in den letzten Monaten vor den großen Massendemonstrationen passiert. Es wurde offen über eine „Einwanderung in die Sozialsysteme“ diskutiert und damit der Referenzrahmen, der durch das Asylrecht gebildet wird, verschoben in Richtung einer Debatte, die Migrant*innen unter Generalverdacht stellte. Diejenigen, die auf den Zug der Rechten aufgesprungen sind, haben sich damit zu ihren Trittbrettfahrern gemacht.

Die Demonstrationen der letzten Wochen haben ihnen ein deutliches Stoppzeichen gesetzt.

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