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Peter Sinapius

Über Selbstbestimmung

8. MAI 1945: JAHRESTAG DER BEFREIUNG VOM NATIONALSOZIALISMUS

Nach dem Ende des Nationalsozialismus gab es nicht nur zahlreiche N*zis, die ungeschoren davon kamen, es gab auch eine weitverbreitete Kultur der Verdrängung und — wie es Alexander und Margarete Mitscherlich nannten — eine „Unfähigkeit zu trauern“. Dabei spielte das sog. „Selbst“ eine zentrale Rolle, das einen Menschen ausmacht. Es wird in dem Selbstkonzept greifbar, das er als autonom denkendes und handelndes Individuum von sich entwirft und das ihn in seiner Einzigartigkeit definiert. Im Nationalsozialismus verlor sich dieses Selbst allerdings in jener „Volksgemeinschaft“, der es seine Identität verdankte.

Wer sein Selbstkonzept im Nationalsozialismus aus seinen sozialen Beziehungen innerhalb sozialer Gemeinschaften abgeleitet hatte, die dem Ideal der „Volksgemeinschaft“ folgten – als Soldat, als Mitglied der HJ, als Beamter oder Arbeiter –, der sah sich nach dem Krieg entweder vor die Herausforderung gestellt, dieses Selbstkonzept zu revidieren, oder er konnte keinen Grund erkennen, für die nationalsozialistische Geschichte Verantwortung zu übernehmen. Er hätte entweder gesagt: „Ich habe nur meine Pflicht getan“ oder er hätte – mit Hannah Arendt gesprochen – sagen müssen: „Ich [habe] bestimmte Dinge getan, die ich nicht hätte tun dürfen.“

Das System von Befehl, Gehorsam, Pflichterfüllung und Kameradschaft war aber weitgehend immun gegen die Frage nach individueller Verantwortung und Schuld. Wer seine Tätigkeit in den durchgängig nach dem sogenannten „Führerprinzip“ organisierten Gemeinschaften infrage gestellt hätte, hätte auch den in ihnen herrschenden Verhaltenskodex von Befehl und Gehorsam infrage stellen müssen. Er hätte sich fragen müssen: „Kann ich das, was ich verpflichtet bin zu tun, vor mir selbst verantworten?“

Wenn er das nicht hätte vor sich verantworten können, dann hätte er sich seiner Verpflichtung widersetzen müssen: als Soldat in einer verbrecherischen Armee, als Arbeiter in einem von Zwangsarbeit profitierenden Unternehmen, als Mitglied einer rassistischen Jugendorganisation, einer gleichgeschalteten Kirchengemeinde oder eines „gesäuberten“ Hochschulkollegiums. Er hätte festgestellt, dass das, was er tat, nicht im Einklang mit dem Selbstkonzept stand, das er von sich hatte. Das wäre die Grundlage für selbstbestimmte Entscheidungen gewesen.

Hannah Arendt beschreibt die Selbstbestimmung als Schlüssel, um zu einem Selbstkonzept zu gelangen, das zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden vermag:
„In der Moral geht es um das Individuum in seiner Einzigartigkeit. Das Kriterium von Recht und Unrecht, die Antwort auf die Frage: Was soll ich tun?, hängt in letzter Instanz weder von Gewohnheiten und Sitten ab, die ich mit Anderen um mich Lebenden teile, noch von einem Befehl göttlichen oder menschlichen Ursprungs, sondern davon, was ich im Hinblick auf mich selbst entscheide.“

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