Peter Sinapius

Vom Besteigen hoher Berge und dem Kiesel unter den Füßen.

ÜBERLEGUNGEN ZUR PRAXIS DER KÜNSTLERISCHEN THERAPIEN.
Vortrag auf dem Fachtag für Künstlerische Therapien Essen am 06.03.2024

Normalerweise werden unter Handlungen – verkürzt ausgedrückt – Tätigkeiten verstanden, die intentional und sinnvoll auf einen Gegenstand oder eine Sache ausgerichtet sind (vgl. z. B. Staub-Bernasconi, 2004). Etwas, das zufällig passiert, ist folglich nicht Teil einer Handlung.
Um etwas Bestimmtes zu erreichen, müssen wir uns auf den Weg machen. Um zu wissen, welchen Weg wir einschlagen, müssen wir uns über das Ziel im Klaren sein. Um nach Essen zu dieser Fachtagung zu kommen, muss ich planmäßig vorgehen: Ich muss ein Hotelzimmer buchen, eine Zugverbindung raussuchen, pünktlich am Gleis stehen, im Hotel einchecken usw. usf. Ich habe ein Ziel und muss herausfinden, welcher Weg zum Ziel führt. Auf diese Weise bewegen wir uns meistens durch unseren Alltag.
In der künstlerischen und künstlerisch-therapeutischen Praxis bewegen wir uns anders. Das Handlungsmodell, das unseren Alltag beschreibt, trifft dann nicht zu. Als Kunsttherapeut weiß ich häufig nicht, wohin die Reise geht. Es geht nicht um das Erreichen eines bestimmten Ziels, sondern um das, was auf dem Weg passiert oder auch nicht passiert. Damit verbundene Handlungen werden nicht durch klassische Handlungstheorien erfasst. Sie sind eher Gegenstand einer Soziologie der Bewegung, die, so schreibt ihre Urheberin Gabriele Klein, „die Perspektive von der Intentionalität der Handlung als einen gedanklichen Vorgang zu der Materialität des Handelns als einen Bewegungsakt“ verschiebt (Klein 2004, 138).
Mit einem solchen Handlungsbegriff befinden sich die Künstlerischen Therapien in einem Widerspruch zu einer medizinisch-therapeutischen Praxis, die den Anspruch hat planmäßig vorzugehen und dem Dreischritt Diagnostik, Indikation und Intervention zu folgen. Dieser Dreischritt ist aber nur dann möglich, wenn das therapeutische Vorgehen methodisch gesichert ist und sich naturwissenschaftlich begründen lässt. Das trifft zu bei Interventionen, die statistisch einigermaßen genau zu erfassen sind, nicht aber bei individuellen Entwicklungsprozessen, die nicht planmäßig verlaufen und sich nicht voraussagen lassen.
Im Folgenden möchte ich darlegen, warum das so ist und was daraus für die künstlerisch-therapeutische Praxis folgt.

Um etwas darüber in Erfahrung zu bringen, wie individuelle Entwicklungsprozesse verlaufen, bediene ich mich eines alten, kleinen Fotoalbums, das ich auf dem Dachboden gefunden habe und in dem sich Fotos aus meiner Kindheit befinden. Es dokumentiert also den Teil meiner Entwicklung, die weit in der Vergangenheit liegt und auf die ich aus der Perspektive eines Erwachsenen einen Blick richten kann. Dabei kreuzen sich jene polaren Handlungsmodelle, die mit der kindlichen Welt auf der einen Seite und der Welt der Erwachsenen auf der anderen Seite verbunden sind: das eine Modell, durch das sich Handlungen auf die Gegenwart gerichtet beschreiben lassen, das andere, durch das Handlungen als intentional auf die Zukunft gerichtet verstanden werden können.
Das Design des Fotoalbums ist etwas aus der Zeit gefallen. Es muss fast sechzig Jahre alt sein. Es ist eingebunden in einer abweisenden und stumpfen Plastikfolie, die den Charme der Dauerwellen und Nierentische aus den 60er Jahren ausstrahlt.
Die Fotos, die in dem Album eingeklebt sind, dokumentieren Höhepunkte des Familienlebens wie Geburtstage, Ausflüge oder Urlaubsreisen. Sie sind chronologisch angeordnet und wurden von meiner Mutter mit sparsamen Beschriftungen versehen. An das, was auf den Fotos abgebildet ist, kann ich mich nicht erinnern. Um mehr von ihnen zu erfahren, bleibt mir nichts anderes übrig, als sie genau zu studieren: Ich finde mich und meine Geschwister wieder in weißen Hemden und gebügelten Hosen, die wir an Sonn- und Feiertagen getragen haben, in Lederhosen und Wanderstiefeln beim Besteigen hoher Berge, in Badehosen beim Planschen im Seewasser oder verkleidet als Old Shatterhand an Fasnacht. Von den Fotos erfahre ich einiges über die, die die Fotos gemacht haben und darüber, was sie gesehen haben oder sehen wollten: Kinder, die nett anzusehen sind, Kinder, die Berge bezwingen oder Kinder, die miteinander im Wasser spielen und artig sind. Die Geschichte derjenigen, die abgebildet sind, erfüllt sich darin nicht. Es ist diese Diskrepanz, die mich interessiert: Die Diskrepanz zwischen dem Blick derjenigen, die das Objektiv der Kamera auf die Kinder richten, und dem Blick derjenigen, auf die die Kamera gerichtet ist, mithin die Diskrepanz zwischen der Welt der Erwachsenen und der kindlichen Welt.

In der künstlerischen und in der künstlerisch-therapeutischen Praxis bewegen wir uns immer in oder zwischen diesen beiden Welten (Behfeld/Sinapius 2021). Auch wenn man den Eindruck gewinnen kann, es sei das Wichtigste im Leben der Kindheit zu entkommen, hören wir doch nie auf Kind zu sein, nur weil wir die Pubertät hinter uns haben oder volljährig geworden sind. Dann aber stellt sich die Frage, was es heißt, sich als Kind, das wir nie aufgehört haben zu sein, in der Welt der Erwachsenen aufzuhalten.
Ich habe versucht, die Fotos aus der Perspektive des neun-, zehn- oder elfjährigen Jungen zu betrachten, der darauf abgebildet ist und der ich einmal gewesen bin. Dabei sind mir ganz eigenartige Geschichten eingefallen, die es nie gegeben hat. Von diesen Geschichten möchte ich Ihnen hier eine Geschichte stellvertretend vortragen. Sie bezieht sich auf zwei Fotos.

Unter dem ersten Foto steht einfach nur „Bergtour“. Darauf sind ich, mein Vater und meine Geschwister zu sehen. Wir befinden uns vermutlich kurz oberhalb der Baumgrenze auf dem Gipfel eines Berges, machen Rast, schauen gegen die Sonne und kneifen die Augen zusammen. Im Hintergrund sind noch die Spitzen von Tannen zu sehen. In der Mitte des Fotos befindet sich mein Vater, der mich in seinem Schoß in den Armen hält. Links und rechts neben ihm befinden sich meine Schwestern, im Vordergrund ragt der Kopf meines Bruders ins Bild. Der Einzige, der etwas entspannt in die Kamera lächelt, ist mein Vater. Meine ältere Schwester blickt gelangweilt in die Gegend, mein Bruder, meine jüngere Schwester und ich machen einen eher erschöpften und gequälten Eindruck.
Unter diesem Foto ist ein weiteres zu sehen, auf dem ich mit meinen Geschwistern und Eltern im Gänsemarsch auf den Berg steige. Darüber hinaus ist auf dem Foto nichts weiter Ungewöhnliches zu entdecken.

Es muss ein sonniger Tag gewesen sein. Wir haben im Zelt geschlafen und werden uns früh aus unseren Schlafsäcken gepellt haben. Dann sind wir in die Waschräume geeilt, haben gefrühstückt, meine Mutter hat Brote für unterwegs geschmiert und mein Vater den Rucksack gepackt. Schließlich sind wir losmarschiert um auf irgendeinen Berggipfel zu gelangen, den mein Vater vorher ausgesucht hatte. Ich laufe vor meiner Mutter her und zähle meine Schritte.
Es geht pausenlos bergauf. Meine Füße fangen an in den dicken Wanderschuhen zu brennen. Ich trete mit voller Kraft in den steinigen Weg und erzeuge eine Staubwolke, die der Wind über die Wiese treibt. Ich sehe so etwas wie einen Habicht oder Adler über uns kreisen und denke: „Du kannst mich mal!“ Vor meinen Füßen läuft ein dicker Käfer. Ich verscheuche ihn. Dabei höre ich nicht auf, meine Schritte zu zählen. Wenn ich mich verzähle oder vergesse, wo ich gerade war, ist mir das egal. Dann fange ich wieder von vorne an.
Meine Beine werden schwer und haben keine Lust mehr weiter zu gehen. Ich schaue zu Boden und sehe, wie meine brennenden Füße in dicken Wollsocken und die dicken Wollsocken in noch dickeren Wanderschuhen stecken. Ich überlege, wie es möglich ist, mit zwei Füßen mehr als zwei Schritte zu machen und fange wieder an meine Schritte zu zählen.
Ich gehe weiter, weil mir nichts anderes übrig bleibt. Würde ich stehen bleiben, würden mich die anderen fragen, was mit mir los sei. Mit mir ist aber nichts los! Ich möchte einfach nur meine Schritte zählen, Kraniche oder Adler verfluchen und Käfer verscheuchen. Damit komme ich aber bei meinem Vater nicht durch. „Man“ wolle doch nur auf den Berg hinauf! Was soll ich dagegen sagen? Er versteht das nicht! Ich muss immer irgendwohin gelangen.
Ich gehe weiter und versuche einfach meinen Füßen zu folgen. Ein Schritt folgt auf den nächsten. Ich schaue nach unten und stelle mir vor ich würde mich im Kreise drehen. Kleine oder größere Kreise. Und solche, die so groß sind, dass man gar nicht merkt, dass man im Kreis geht. Auf jeden Fall nirgendwohin. Wie ein Tanz, der auch kein Ziel hat. Aber nicht so geordnet oder so kunstvoll wie ein Walzer oder Tango. Einfach nur gehen. Mir ist der Kiesel unter meinen Füßen wichtiger als der hohe Berg.
Als wir auf dem Berggipfel angelangt sind, gibt es Brote und etwas zu trinken. Dann macht meine Mutter ein Foto von uns.

Was erfahren wir über die Welt des kleinen Jungen, der hier von einer Bergwanderung erzählt? Er folgt seinen Füßen, er zählt seine Schritte, er tritt in den Staub, er jagt kleine Käfer und hat keine Lust, Berge hochzusteigen. Ihn interessiert es nicht, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Er lebt nicht auf ein Ziel hin, er will den Boden unter seinen Füßen spüren: Der Kiesel unter seinen Füßen ist ihm wichtiger als der hohe Berg.
Das Besteigen hoher Berge funktioniert in dieser Geschichte als Sinnbild für ein Leben, in dem es in erster Linie darum geht, Ziele zu erreichen, Anforderungen zu erfüllen und erfolgreich in der Bewältigung des Alltags zu sein. Wir bringen das gewöhnlich mit Begriffen wie Selbstverwirklichung, Selbstbestimmung oder Autonomie in Verbindung (Menke 2018). Auf den ersten Blick ist dagegen nichts zu sagen, auf den zweiten Blick aber zeigt sich, das Kinder damit in eine normative Ordnung geraten, die im Widerspruch zu Selbstbestimmung oder Autonomie steht. In dieser Ordnung geht es darum, seine Pflichten zu erfüllen, die Versetzung zu schaffen, Erfolg zu haben, sich immer höhere Ziele zu stecken und besser zu werden.

Steigerungszwang
Der Soziologe Hartmut Rosa formuliert den damit verbundenen Steigerungszwang in einer Modernethese. Sie lautet:
„Moderne Gesellschaften sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nur dynamisch zu stabilisieren vermögen, das heißt, dass sie fortwährend auf Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung angewiesen sind, um ihre Struktur bzw. den Status Quo zu erhalten. Dieser Steigerungszwang hat Folgen für die Lebensweise, die Lebensorientierung und die Lebenserfahrung der Subjekte.“ (Rosa 2013, S. 1)
An etwas Interesse zu haben, sich Ziele zu setzen, sich neue Möglichkeiten zu erschließen und seine Ideen zu verwirklichen ist zunächst etwas, was Menschen tun, um sich als autonome Subjekte zu erleben. In der Moderne kehrt sich das damit verbundene Autonomie- und Freiheitsversprechen aber um und wird zum Steigerungs- und Optimierungszwang. Das Fatale ist, dass sich niemand diesem Steigerungszwang entziehen kann, weil Subjekte mit ihrer Geburt dieser Ordnung, die auf Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung ausgerichtet ist, „unterworfen“ werden. Oder anders ausgedrückt: Sie müssen den Wegen folgen, die schon da waren, bevor sie sich klar darüber werden können, welche Wege sie einschlagen wollen.
Aus einer sozialwissenschaftlich-philosophischen Perspektive hat Judith Butler diesen Umstand als charakteristisch für die Subjektwerdung beschrieben: eine Person wird zum Subjekt, indem sie sich einer normativen Ordnung unterwirft (Butler, 2001).

Unterwerfung
Dabei greift Judith Butler auf die aus dem Lateinischen abgeleitete ursprüngliche Bedeutung von Subjektwerdung zurück, die sie mit Begriffen wie „unterwerfen“ oder „unterordnen“ in Verbindung bringt. Sie schreibt:
„Subjektivation besteht eben in dieser grundlegenden Abhängigkeit von einem Diskurs, den wir uns nicht ausgesucht haben, der jedoch paradoxerweise erst unsere Handlungsfähigkeit ermöglicht und erhält“. (ebenda, S. 8).
Und dieser Diskurs schreibt bestimmte Normen vor, innerhalb derer wir uns bewegen und die unsere Sozialisation und damit ganze Lebensbiografien bestimmen. Nun hört sich das so an, als könne kein Mensch diesem Diskurs und der mit ihm verbundenen Steigerungslogik der Moderne entkommen. Ein Mensch ist aber nicht nur dieser Ordnung unterworfen, er ist gleichzeitig auch ein leibliches Wesen, dass zu seiner Umgebung in eine Beziehung tritt.

Resonanz
Von dieser Beziehung handelt eine andere These, die die Modernethese ergänzt, wenn nicht gar ihr widerspricht. Hartmut Rosa nennt sie die Resonanzthese (Rosa 2013, S.5). Sie beschreibt die Fähigkeit des Menschen, in eine Beziehung zu der Welt einzutreten, die ihn umgibt. Diese Beziehung lässt sich als wechselseitige Resonanzbeziehung auffassen, so, als würden sich zwei Körper gegenseitig in Schwingung versetzen. Metaphorisch ausgedrückt heißt das, dass der Mensch nicht nur in der Lage ist, Gipfel zu erklimmen, sondern auch den Kiesel unter seinen Füßen zu spüren. Resonanzbeziehungen können zwischen Menschen entstehen, zwischen Menschen und Dingen und zwischen Menschen und Natur, Kunst, Geschichte oder Religion (Rosa 2016).
Wechselseitige Beziehungen zwischen Menschen setzen eine gegenseitige Akzeptanz oder einen Respekt voraus. Sie werden durch die Sozialphilosophie in einer Theorie der Anerkennung (Honneth 1994) als gesellschaftliches Phänomen beschrieben, durch das Menschen zu sozialen Subjekten werden.

Anerkennung
Mit dem Anerkennungsbegriff lassen sich allerdings nicht nur Resonanzbeziehungen, sondern auch die ihnen entgegengesetzte Steigerungslogik der Moderne beschreiben.
Die Anerkennung einer anderen Person beinhaltet zunächst keine Akte der Zuwendung und Akzeptanz, sondern Handlungen, die einer Beziehung vorausgehen und die normative Vorstellungen zu ihrem Hintergrund haben. Wir statten eine andere Person mit Eigenschaften aus, bevor wir zu ihr eine Beziehung aufgenommen haben. Wir schreiben ihr Eigenschaften zu als Mann, als Frau, als Patient*in, als Therapeut*in, als Abhängige, als Vorgesetzte, als Junge oder Alte, als Gesunde oder Versehrte. Wer eine andere Person wahrnimmt, nimmt sie als etwas wahr und konstruiert sie damit als soziales Subjekt mit spezifischen Merkmalen und Eigenschaften. Mit dieser Form der Anerkennung ist also das gemeint, was Judith Butler Subjektwerdung oder Subjektivation nennt, ein Unterworfensein unter normative Verhältnisse, die mit einer sozialen Ordnung verbunden sind.
Die Anerkennung einer Person kann aber umgekehrt auch eine Resonanzerfahrung zur Grundlage haben, die ganz anders geartet ist. Den Unterschied zwischen den beiden entgegengesetzten Formen der Anerkennung möchte ich an einem ganz praktischen Beispiel zeigen, bei dem sich die Anerkennung nicht auf eine Person sondern auf eine Sache bezieht.
Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einem dunklen Raum, in dem Sie sich nur tastend orientieren können. Stellen Sie sich weiter vor, in diesem Raum liegt irgendwo ein kleines häßliches Fotoalbum, wie das, aus dem die Fotos stammen, die ich Ihnen gezeigt habe. Weil das Fotoalbum in meinem Atelier liegt, bitte ich Sie mir gedanklich in mein Atelier zu folgen. Ich habe das Atelier verdunkelt und das kleine, vergilbte Fotoalbum irgendwo auf den Schreibtisch gelegt.
Ich bin also in diesem dunklen Raum, taste mich zurück zu meinem Schreibtisch und suche auf dem Tisch das Fotoalbum. Ich folge mit meiner Hand zunächst der glatten und abweisenden Oberfläche der Schreibtischplatte, bringe die Zettel, auf denen ich meine Gedanken notiert habe, aus Versehen durcheinander und spüre mit einem mal unter meiner Hand eine weiche und leicht poröse Haut. Meine Hand fühlt sich angesprochen und fährt auf der porösen Oberfläche vorsichtig hin und her. Ich bin beeindruckt von der Anmutung und Sanftheit, die mir entgegenkommt. Dann gelange ich mit meiner Hand an die Begrenzungen der Oberfläche und mir wird bewusst, dass ich mit meiner Hand auf dem Plastikeinband des Fotoalbums angekommen bin. Ich schlage das Album in der Dunkelheit auf und spüre an meinen Fingern eine überraschende Kühle und Glätte, die von den kleinen, scharfkantigen Fotos und ihrer glasglatten Oberfläche ausgeht. Sie stehen in einem spürbaren Kontrast zu dem rauen Karton, auf dem sie befestigt sind. Meine Finger stoßen an das transparente Papier, das zwischen den Seiten liegt und ich höre ein luftiges Knistern, das eine Leichtigkeit und Frische hat wie perlendes Wasser. Ich löse meine Aufmerksamkeit von dem Album und ziehe die Vorhänge wieder auf.

Im Licht liegt das kleine unansehnliche Fotoalbum vor mir, das ich mit meinen Händen in der Dunkelheit erspürt hatte. Mein Erlebnis in der Dunkelheit und das, was ich jetzt sehe, stehen in einem deutlichen Gegensatz zueinander. Offenbar ist es nicht das Fotoalbum selber, das bestimmte Eigenschaften verkörpert wie hässlich, geschmacklos oder billig. Es ist mein Blick, der das Album mit diesen Attributen ausstattet. Es sind Zuschreibungen, die das Fotoalbum einordnen in einen soziokulturellen und ästhetischen Zusammenhang und es als häßlich und unansehnlich qualifizieren. Im Unterschied dazu waren die Erfahrungen in der Dunkelheit auf die Gegenwärtigkeit der sinnlichen Erfahrung gerichtet — wenn Sie so wollen, waren sie der Kiesel unter den Füßen.
In unserem Leben spielen beide Formen der Anerkennung einer Sache oder einer Person eine Rolle. Sprachlich sind wir in der Lage uns einen Begriff von der Wirklichkeit zu machen und in ihr etwas als etwas zu erkennen: als Tisch, als Fotoalbum, als Transparentpapier. Ich wäre in der Dunkelheit meines Ateliers hoffnungslos verloren, wenn ich die Dinge nicht identifizieren könnte als das, was sie sind. Ich bewege mich in der Dunkelheit folglich in einem Antagonismus von Medium und Begriff: Ich spüre die spezifische Eigenart einer Oberfläche und bezeichne sie mit dem allgemeinen Begriff „Fotoalbum“.
Daran ist nichts verkehrt. Problematisch ist es allerdings, wenn wir den kategorialen Sprung zwischen beiden Seiten — zwischen Medium und Botschaft — nicht erkennen.

Medium und Botschaft
Zunächst schreibe ich einer Sache oder einer anderen Person bestimmte Attribute zu, bevor ich sie kennengelernt habe. Zu mir in die Kunsttherapie kommt ein neunjähriger Junge. Er ist mit der Diagnose „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung“, also „ADHS“ ausgestattet. Er habe keine „Impulskontrolle“, wurde mir gesagt, er ist ein „Problemfall“. Das spielt aber in unserer Zusammenarbeit plötzlich gar keine Rolle mehr. Er sieht auf meiner Werkbank ein Stück Lindenholz. Er will das Holz aushöhlen. Ich nehme den Stechbeitel und fordere ihn auf, mit seiner ganzen Kraft darauf zu schlagen — ohne allerdings meine Hand zu treffen. Während er mit seiner ganzen Kraft draufschlägt, gehört seine ganze Sorge der Hand, die den Stechbeitel hält. Er trifft sie nicht, weil er mich mag und er mir nicht wehtun will. Diese Form der Anerkennung folgt nicht diagnostischen Zuschreibungen, sondern den medialen und emotionalen Bedingungen unserer Zusammenarbeit (vgl. Sinapius 2018).
Ich habe vor vierzig Jahren, bevor ich angefangen habe kunsttherapeutisch zu arbeiten, Malerei studiert. Dann bin ich Kunsttherapeut geworden. Die Kinder, die zu mir gekommen sind, haben mir beigebracht Burgen zu bauen, Räuber und Gendarm zu spielen oder absurde Geschichten zu erfinden. Davon hatte ich keine Ahnung. Für meine Vorstellung von Malerei, Ästhetik und Sinnlichkeit haben die Kinder sich jedenfalls nicht interessiert. Sie sind selten vorgegebenen Wegen gefolgt und wollten auch nicht irgendwelche Erwartungen erfüllen. Sie haben die Dinge in die Hand genommen, haben etwas damit gemacht und die Welt hat ihnen geantwortet.
Wenn Sie genau hinhören, bemerken Sie, wie ich mich mit dieser Beschreibung der künstlerisch-therapeutischen Praxis in einem Antagonismus von Medium und Botschaft bewege. Wenn ich mit dem 9-jährigen Jungen zusammen ein Stück Lindenholz bearbeite, ist das Lindenholz das Medium, über das wir in eine Beziehung treten.
Wenn ich allerdings ein Kind als verhaltensauffällig oder als Problemfall identifiziere und mit einer Diagnose ausstatte, vermittelt zwischen uns kein Medium, sondern ein Begriff — und dieser Begriff ist nicht mehr als eine symbolische Einordnung seines Verhaltens in ein vorgegebenes Klassifikationssystem. Beide Möglichkeiten der Begegnung sind spezifische Formen der Anerkennung. In dem einen Fall vermittelt sie sich über einen symbolischen Begriff, dass andere mal über das Medium selber.
In der künstlerisch-therapeutischen Praxis brauchen wir beide Formen der Anerkennung. Und genau darin liegt ein Paradoxon.

Quellen:
Behfeld, M. & Sinapius, P. (2021). Handbuch Künstlerischer Therapien. Kritik und Philosophie der therapeutischen Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht.

Butler, J. (2001). Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Suhrkamp.

Honneth, A. (1994). Kampf um Anerkennung – Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Suhrkamp.

Klein, G. (2004): Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte. Bielefeld: transcript.

Menke, C. (2018): Autonomie und Befreiung – Studien zu Hegel. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Rosa, H. (2013): Resonanz statt Entfremdung: Zehn Thesen wider die Steigerungslogik der Moderne. In: Konzeptwerk Neue Ökonomie (Hrsg.): Zeitwohlstand. München 2013.

Rosa, H. (2016). Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp.

Sinapius, P. (2018). Intermedialität und Intermodalität in den Künstlerischen Therapien. Voraussetzungen, Bedingungen, Rahmungen. In ders. (Hrsg.), Intermedialität und Performativität in den Künstlerischen Therapien (S. 124–143). HPB University Press.

Staub-Bernasconi, S. (2004): Wissen und Können – Handlungstheorien und Handlungskompetenz in der Sozialen Arbeit. In: Mühlum, A. (Hg.): Sozialarbeitswissenschaft – Wissenschaft der Sozialen Arbeit. Freiburg: Lambertus.

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