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Peter Sinapius

Vom Hinsehen und vom Wegsehen

WIE WELTANSCHAUUNGEN ENTSTEHEN

Der Begriff »Weltanschauung« taucht das erste Mal 1790 bei Immanuel Kant auf und bezeichnet das Vermögen, die Welt in ihrer Gesamtheit wahrzunehmen und in sprachliche Begriffe zu fassen.

Die nationalsozialistische Weltanschauung beruhte auf einer rassistischen Ideologie, die der Wahrnehmung vorausging. Jüdinnen und Juden, geistig und körperlich »Behinderte«, »Asoziale«, chronisch Kranke, Homosexuelle oder »geborene Verbrecher« galten als »minderwertig« oder »asozial« und wurden mit diesen Stereotypen versehen, bevor sie als Individuen in Erscheinung treten konnten. Für die diskriminierenden Zuschreibungen war nicht die tatsächlich erfahrbare Welt von Belang, sondern – wie in Platons Höhlengleichnis – lediglich der Schatten, den sie warf.

In dem als Höhlengleichnis bekannten Gedankenexperiment von Platon befinden sich Menschen in einer Höhle, in der sie aus irgendeinem Grund ihr ganzes Leben als Gefangene verbringen müssen. Sie sind gefesselt und mit dem Rücken dem Höhlenausgang zugewandt. Sie sind nicht in der Lage, ihren Kopf zu wenden, sondern blicken auf die Höhlenwand. Wie die Welt außerhalb der Höhle aussieht, wissen sie nicht.

Auf der Höhlenwand sehen sie die Schatten unterschiedlicher Gegenstände, die die Menschen vor der Höhle hin- und hertragen. Was sie über die Welt wahrnehmen, ist den Schatten der Gegenstände geschuldet, über die sich die Gefangenen verständigen, denen sie Bedeutungen zuschreiben und über die sie Theorien entwickeln können.

Das, was sie sehen, halten sie für die reale Welt. Sie wissen also, so die Bildungswissenschaftlerin Ursula Frost, »durchaus etwas und können ihr Wissen auch anwenden, aber was sie zu Ungebildeten macht, ist, dass sie den Bezugs- und Bedingungsrahmen ihres Wissens nicht in Frage stellen«. Das können sie nicht, weil dieser Bezugs- und Bedingungsrahmen außerhalb ihrer Wahrnehmungsmöglichkeiten liegt.

Das Gedankenexperiment von Platon führt den Zusammenhang zwischen der visuellen Wahrnehmung und dem, was wir über die Welt wissen, vor Augen: Die Gefangenen sehen die Welt nicht einfach so, wie sie ist, sondern sie sehen sie unter den besonderen Bedingungen ihres Daseins und damit aus einer bestimmten Perspektive.

Erst in dem Augenblick, in dem sie dem Bezugs- und Bedingungsrahmen ihrer Wahrnehmung Widerstand entgegensetzen, ihn verschieben oder ihre Perspektive verändern würden, könnten sie zu einer Anschauung der Welt gelangen, die sie auch in die Lage versetzt, den Bezugs- und Bedingungsrahmen ihrer Wahrnehmung zu erkennen und damit über die Bedingungen des Zustandekommens ihrer Anschauungen zu reflektieren.

Ziiert aus:
Peter Sinapius (2023): Vom Hinsehen und vom Wegsehen. Soziale Praktiken im Nationalsozialismus. Gießen: Psychosozial-Verlag

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