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Peter Sinapius

Vom Verschieben moralischer Grenzen

Ich hatte die umstrittene Talkshow von Maybrit Illner am 15.2. mit Storch und Wagenknecht nur kurz eingeschaltet. Die Diskussion nahm gerade eine entscheidende Wendung, als Beatrix von Storch von der Spiegel-Redakteurin Amann mit einem Facebook-Eintrag konfrontiert wurde, in dem Storch 2016 erklärt hatte, dass man gegen Asylberber*innen an der Grenze auch Schusswaffen einsetzen könne.

Als dann in der gleichen Talkshow kurze Zeit später Jens Spahn Gewalt als Lösung „irregulärer Migrationsbewegungen“ verteidigte, war Storchs Plädoyer für Schusswaffen irgendwie nicht mehr weit. Und wenn für bestimmte Menschengruppen das universelle Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht mehr gilt, verschieben sich Grenzen für moralisches Handeln.

Ein Rückblick: Im Nationalsozialismus wurde moralisches Handeln im Sinne eines „rassenhygienischen Altruismus“ als Dienst an der Allgemeinheit verstanden und damit von der Urteilsfähigkeit und Verantwortung des einzelnen Menschen entkoppelt. Es war gesetzlich geregelt, wer zur „Volksgemeinschaft“ gehörte und wer nicht, für wen also moralische Grundsätze Gültigkeit hatten und für wen nicht.

Die Diskriminierung vollzog sich administrativ, sodass diejenigen, die zur Diskriminierung beitrugen, scheinbar keine Verantwortung übernehmen mussten, weil sie sich in Übereinstimmung mit geltendem Recht befanden und seinen bürokratischen Regeln zu folgen hatten. Wenn sie sich aber gegen diskriminierende Praktiken stellten, begaben sich sich selbst außerhalb des Rechtssystems und verloren ihre Existenzberechtigung. Das erschreckende Ergebnis war, dass nach dem Krieg kaum jemand auszumachen war, der sich für die Verbrechen, die im Namen der „Volksgemeinschaft“ begangen wurden, verantwortlich fühlte.

Als nach dem Krieg die Beamten des Reichsjustizministeriums, die für die Deportation von als „asozial“ deklarierten Personen verantwortlich gewesen waren und ihre Einweisung in die Konzentrationslager veranlasst hatten, zur Rechenschaft gezogen werden sollten, wollten sie nicht gewusst haben, was „Vernichtung“ bedeutete. Sie wurden freigesprochen.

Die Universalität moralischer Handlungen, die hier zur Diskussion steht, ist Gegenstand eines von Kant formulierten Gesetzes, das er den „kategorischen Imperativ“ genannt hat: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“. Damit ist Moral dem individuellen Urteil und Gewissen jedes einzelnen Menschen unterworfen. Die Voraussetzung moralischen Handelns sah Kant in der menschlichen Würde gegeben, die den Menschen dazu verpflichtet, die Autonomie und Integrität eines anderen zu achten. Moral ist demnach etwas Bedingungsloses, in das kein übergeordnetes Regel- oder Verhaltenssystem eingreifen kann.

Auch kein Gesetz zum Schutz vor „irregulärer Einwanderung“.

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